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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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nach dem Blitzschlag, trifft es Asis erneut, nicht wie Feuer aus heiterem Himmel, aber doch so unerwartet, dass ihm wieder für einen Augenblick das Herz stehen bleibt: Aus einem Frisörsalon dringt Musik, traditionelle Lautenmusik, wie Asis sie unzählige Male gehört hat. Seine Eltern mögen diese Art von Musik, auch wenn sie nicht besonders musikalisch sind. Er und seine Freunde hingegen lieben arabischen Rap und Hiphop. Daher versteht er nicht, was ihm gerade widerfährt: Er bleibt vor dem Laden stehen, lauscht der ’Ud und fühlt die Töne in sich eindringen, dass es ihm schier das Herz zerreißt. Tränen treten ihm in die Augen, es ist lächerlich, er hat seit Jahren nicht mehr geweint, und ein Schmerz sprengt seine Brust, der mit nichts zu vergleichen ist, was er je zuvor verspürt hat. Dabei sind es doch nur Töne, die aus einem billigen Kassettenrekorder auf die Straße dringen, Töne, die er nicht mal zu benennen weiß. Er hat als kleiner Junge hin und wieder mal trommeln dürfen, wenn die Hochzeitskapelle eine Pause gemacht hat, Trommeln war in Ordnung, klingen die Schläge doch wie ein rasendes Herz oder wie Gewehrsalven. Aber Flöten und Lauten, das sind Instrumente für Barbiere und Bader.
    Er reißt sich zusammen, wischt sich die kindischen Tränen aus dem Gesicht und rennt das letzte Stück zum Trainingsplatz. Wie immer geht es laut zu unter den Kameraden. Und er ist glücklich über die Anfeuerungsrufe und die wilden, unartikulierten Schreie. Es sind mehr Klänge als Worte, aber sie sind kraftvoll, körperlich, unvermittelt und direkt wie ein Foul im Strafraum oder die Umarmungen nach einem Tor.
    Auf angenehme Art erschöpft und zerschlagen kehrt Asis am Abend heim und geht nach einem raschen Abendessen und einer kurzen Katzenwäsche früh zu Bett.
    Mitten in der Nacht wacht er auf. Musik erfüllt sein Zimmer. Verwirrt schaut er sich um. Es gibt kein Radio in seiner Schlafkammer. Jemand will ihm einen Streich spielen, denkt er. Natürlich hat er niemandem von jenem Augenblick der Rührung erzählt, aber vielleicht hat ihn jemand dabei beobachtet, wie er mit tränenüberströmtem Gesicht einem Lautenstück gelauscht hat.
    Er macht Licht und schaut sich in seinem Zimmer um. Die Musik ist so deutlich zu hören, als säße der ’Udspieler im selben Raum. Aber in dieser kargen Kammer gibt es nichts außer seiner Matratze und der Wäschetruhe. Er öffnet die Tür. Im Haus ist es still. Dann das Fenster, aber auch auf der Straße ist alles ruhig. Er kneift sich in den Arm, so fest, daß er aufschreit. Doch es gibt keinen Zweifel, er ist wach, und die Musik ist so deutlich zu hören wie sein Schrei. Er tritt zornig gegen die Matratze, dann noch heftiger gegen die alte Nussbaumtruhe. Weinend vor Schmerz ergreift er die verstauchten Zehen und hinkt zu seinem Nachtlager zurück. Es nützt alles nichts: Die Musik ist in seinem Kopf.
    Er legt sich wieder hin und hört zu. Was soll er sonst auch tun? Und sie klingt im Grunde gar nicht übel, wenn auch ganz anders als die Musik, die er sonst hört. Er kann sie nicht wirklich beschreiben, dieses springbrunnenartige Aufschäumen und Zerperlen der Töne. Und nicht nur die Art der Musik ist ihm fremd, sondern auch das Gefühl, das sie in ihm weckt. Es ist allenfalls mit den Tagträumen vergleichbar, wenn er sich als gefeierten Stürmer im Stadion von Kuwait oder Abu Dhabi sieht. Aber auch dieser Vergleich hinkt. Ein Traum, ja, aber zarter, tiefer, unlösbarer als diese groben Heldenphantasien.
    Er steht noch einmal auf, schaltet das Licht an und durchsucht alle Taschen. Die Musik klingt weiter, jeder Ton so klar und rein, wie kein Lautsprecher der Welt ihn würde erzeugen können. Endlich findet er sie, die Karte von Dr. Fuad al-Halawi, Kardiologe.
    Kardiologe, das klingt doch wie Nervendoktor oder Irrenarzt. Hat der Mann ihm nicht angeboten, ihn aufzusuchen, wenn er Probleme bekäme? Und wenn es in diesem ganzen Irrsinn etwas gibt, dessen er sich gewiss ist, dann in diesem Punkt: Der Blitz ist schuld!

4
    Als Asis geboren wurde, wohnten in Ibb noch fünfzigtausend Menschen. Inzwischen sind es doppelt so viele. Die alten Häuser sind fünf- und sechsstöckige Türme aus dem orangefarbenen, grau und rosa schimmernden Tuffgestein der Umgebung. Die Altstadt liegt fast genauso hoch wie die Hauptstadt Sanaa. Aber da Ibb in den letzten Jahren unaufhörlich gewachsen ist, ziehen sich Häuser und Straßen nun hinunter bis ins ehemals grüne Tal.
    Dr. Fuad al-Halawi wohnt im
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