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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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aufzuhören. Doch auch wenn er zurück in seinem Körper sein mag, gehorchen will ihm dieser noch nicht.
    Endlich, endlich kann er Zunge und Lippen bewegen, und mit dem grenzenlosen Ärger dessen, der aus einem wunderschönen Traum gerissen wird, fährt er seinen Lebensretter an: »Ist ja schon gut, ich bin doch keine Gummipuppe!«
    »Vor einigen Minuten warst du es noch«, sagt der fremde Mann mürrisch, lässt von Asis ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Schuhspitzen und die Knie seiner dunklen Hose sind schlammverschmiert.
    Der Mann will einen Krankenwagen rufen, und tatsächlich sieht Asis’ Gesicht schrecklich aus: Nässe und Staub haben eine grausilbrige Maske gebildet, und auf der Stirn befindet sich ein flammendrotes Mal, eine Verbrennung dritten Grades, sagt der Mann, die unbedingt behandelt gehöre. Doch Asis will von Krankenwagen und Unfallstationen nichts wissen.
    Der Mann zuckt gleichgültig mit den Achseln, reicht Asis die Hand und hilft ihm aufzustehen. Gegen seinen Willen muss Asis sich auf den Arm des fremden Mannes stützen, um nicht gleich wieder in den Dreck zu fallen. Sein Kopf droht zu zerspringen, und sein rechtes Bein ist noch immer taub.
    Der Mann zieht eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reicht sie Asis. »Lass dich von deinen Freunden nach Hause bringen. Und wenn die Schmerzen in den nächsten Tagen nicht abklingen, komm mich besuchen!«
    Dann geht der fremde Mann zurück zum Taxiphone, um sein unterbrochenes Telefongespräch fortzusetzen. – Auf der Visitenkarte liest Asis:
    Dr. Fuad al-Halawi
    Kardiologe
    »Was ist ein Kardiologe?«, fragt er seinen Freund Hamid.
    »Keine Ahnung«, antwortet Hamid. »Immerhin wusste er, was zu tun war. Ich glaube, du bist für einen Augenblick echt tot gewesen.«
    »Das ist wahr«, sagt Achmad, der rechte Verteidiger. »Ich habe mein Ohr auf deine Brust gelegt. Aber da war nichts mehr. Der Alte hat dein Herz wieder zum Schlagen gebracht!«
    »Blödsinn!«, widerspricht Asis. »Ich war die ganze Zeit hellwach! Und dieser Verrückte hat mir fast die Rippen gebrochen! – Egal, ich muss jetzt ohnehin nach Hause. Wir sehen uns morgen!«
    Am nächsten Morgen bleibt Asis im Bett. Seiner Mutter hat er nichts von dem Blitz erzählt. Als Entschuldigung hätte es ohnehin nicht getaugt, sie hätte ihm kein Wort geglaubt. Und sein lädiertes und schmutziges Gesicht ist für sie ja ein ziemlich vertrauter Anblick. So kommt er häufig vom Training nach Hause.
    Sie kocht ihm einen Tee und lässt ihn dann in Ruhe. Am Nachmittag steht Asis auf, am nächsten Tag geht er wieder zur Schule, und nach der Schule steht er wie üblich mit seinen Kameraden auf dem Aschenplatz, als sei nichts gewesen. Sein Kopf und sein Bein schmerzen noch ein wenig, aber auch nicht mehr als nach den üblichen Verstauchungen und Prellungen. Und Asis ist nie ein wehleidiger Junge gewesen.
    Nach einer Woche hat Asis den Vorfall und den fremden Mann fast vergessen. Nur die Brandnarbe auf der Stirn erinnert ihn daran, dass es diesen Unfall wirklich gegeben hat. Aber Asis schaut selten in den Spiegel. Und es ist nicht die einzige Narbe, die er hat. Wunden und Narben gehören so selbstverständlich zu seinem Alltag wie die Bohnen zum Frühstück oder die graue Schuluniform zum Unterricht.

2
    Sein vierzehnter Geburtstag geht vorüber, ohne dass irgend jemand ihn beachtet hätte. Im Jemen werden Geburtstage nicht gefeiert. Aber er selbst hat daran gedacht. Er fragt sich, warum man in Amerika Geburtstagspartys veranstaltet und sich beschenkt, in seiner Heimat aber nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. Freut sich niemand über den Tag, an dem ein Mensch das Licht der Welt erblickt hat? Gut, sein Vater und seine Mutter kennen nicht einmal das genaue Datum ihrer Geburt. Aber der Geburtstag ihrer Kinder müsste doch ein Anlass zur Freude sein, oder?
    Vielleicht muss man so reich wie die Amerikaner sein, um Geburtstage feiern zu können. Für seine Eltern ist er jedenfalls nicht nur ein Geschenk gewesen, sondern auch eine ständige Bürde. Überhaupt haben die Menschen im Grunde keinen eigenen Verdienst an ihrem Dasein, Anfang und Ende des Lebens liegen allein in Gottes Hand. Wenn also jemand eine Party schmeißen müsste, wäre es vor allem Gott.
    Asis weiß, dass er mit diesen Gedanken einen gefährlichen Weg beschreitet, ist aber noch nicht zufrieden. Wird denn im Westen ein Geburtstag deshalb gefeiert, weil es jemand verdient hätte, geboren worden zu sein? Liegt der
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