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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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ein missgebildetes Kind, das man nur bemitleiden kann, wenn man es nicht direkt nach der Geburt ersäuft hat.
    Asis streicht über die Stahlsaiten. Wenn sie reißen, denkt er, können sie mir gnadenlos einen Finger oder ein Ohr abreißen. Und in sein Mitleid mischt sich ein erster Anflug von Respekt.
    Asis weiß, es ist ein altes Instrument. Schon der junge Daud spielte darauf für König Suleiman und für seinen Freund Jonathan, erzählt ihm Dr. Fuad, als er vollkommen überraschend vor Asis’ Elternhaus auftaucht und ihm die alte Laute in die Hand drückt.
    »Bei mir zu Hause stand sie nur ungenutzt herum. Dabei ist es ein sehr wertvolles Instrument von einem berühmten Lautenbauer in Damaskus. Es ist eine wahre Schande, dass seit Jahren niemand mehr darauf gespielt hat!«
    Asis weiß nicht, was er sagen soll. Ehe er das Geschenk ablehnen oder sich auch nur dafür hätte bedanken können, ist Dr. Fuad schon wieder verschwunden. Er wird es ihm gleich Morgen nach der Schule zurückbringen, nimmt er sich vor. Was soll er mit diesem hässlichen Ding? Und was bringt Musik überhaupt? Zu Hause gibt es keinen Plattenspieler oder Kassettenrekorder oder auch nur ein Radiogerät und natürlich keinerlei Instrument. Mit den Freunden hört er zwar hin und wieder Musik, aber das ist etwas anderes. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Klänge, sondern viel mehr um Songtexte, um das Aussehen der Sänger, um ihre Freundinnen, Autos oder Skandale. Rhythmus und Melodie klingen in seinen Ohren so gleich, dass er sich weder die Titel noch die Bandnamen merken kann. Musik ist einfach eine Art Hintergrundrauschen des Zusammenseins, wenn sie gerade mal nicht Fußball spielen.
    Asis folgt dem alten Aquädukt, der früher einmal die Stadt mit Regenwasser aus dem Gebirge versorgt hat. Mit der ’Ud auf dem Rücken wandert er bis zu einer einsamen Schlucht, in der ein kleiner Wasserlauf den steilen Berg hinabstürzt. Früher sei es ein richtiger Wasserfall gewesen, hat ihm sein Vater erzählt, als er ihn zum ersten Mal hierher führte. Das Wasser habe sich in kleinen Becken gesammelt, und die Jungen aus der Stadt seien häufig hierher gekommen, um in den Becken zu baden oder unter dem Wasserfall herumzutollen.
    Normalerweise redet sein Vater wenig, wenig mit Asis, und noch weniger mit seiner Frau und seinen Töchtern. Die Stimme von Asis’ Mutter ist sanft, Asis hört sie gerne. Doch die Stimme seines Vaters ist noch zarter, zerbrechlicher. Selten erhebt er sie gegen seine Frau oder seine Kinder, meistens schweigt er.
    Sein Vater hat keine eigene Werkstatt, sondern arbeitet auf einer Plastikplane am Straßenrand. Auf der schwarzen Folie breitet er Leder- und Gummistücke, Zwirn und Aale und einige vergessene Schuhe aus. Am Mittag spannt er einen alten, löchrigen Regenschirm zum Schutz vor der Sonne auf. So sitzt er dort vom frühen Morgen bis zum Anbruch der Dämmerung. Eine von Asis’ Schwestern, meistens die Jüngere, Aschraka, bringt ihm am Mittag einen Topf mit Bohnen und Brot. Sonst unterbricht er seine Arbeit nur zu
al-Thuhr
und
al-’Asr
, zum Mittags- und Nachmittagsgebet, das er in der nahe gelegenen
Dschamia kabir
, der Großen Moschee von Ibb verrichtet.
    Aus dem Wasserfall ist ein Rinnsal geworden, das Wasser steht grün und trüb in den halbvollen Becken, niemand badet mehr hier.
    »Früher hat es von Ende Mai bis Anfang September fast täglich geregnet«, seufzt seine Mutter in jedem Sommer aufs Neue. Doch inzwischen herrscht auch in Ibb Regen- und Wassermangel. Und die kaum zwei Stunden entfernte Großstadt Taiz muss bereits vollständig durch Tankwagen mit Wasser aus anderen Provinzen versorgt werden.
    Asis mag dieses abgeschiedene Tal. Er schließt die Augen und hört dem Wasser zu. Am Anfang vernimmt er nicht mehr als ein graues, feinkörniges Rauschen. Doch je länger er lauscht, umso mehr teilt der Klang sich wie die einzelnen Schnüre eines Perlenvorhangs. Der Wasserfall klingt nun vielstimmig, zu vielstimmig vielleicht, weil die verschiedenen Melodien in diesem Klangteppich kaum zu verfolgen sind. Asis versucht es trotzdem. So, wie das Wasser sich an den Steinblöcken und ausgewaschenen Rinnen verzweigt, getrennte Wege fließt, unterschiedlich stürzt und aufschlägt, folgt Asis den verschiedenen Tonsträngen, schält ihr Muster aus der Lautgischt und erfindet seine eigene Stimme dazu. Nein, nicht er erfindet die Stimme, seine Laute spielt mit dem Wasser, seine Finger fließen über die Saiten, die Töne perlen
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