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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
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ging, und stellte zu meiner großen Erleichterung fest, dass dem noch so war. Er war einfach nur ohnmächtig geworden, wie eine junge Dame im zu eng geschnürten Korsett. Eine Hälfte seines Gesichts war voller Blut, das von einer heftig blutenden Platzwunde über der Augenbraue kam, die er sich beim Sturz zugezogen hatte.
    «Vielleicht hat er einen Schwächeanfall erlitten», sagte Wells, «oder einen Hitzeschlag.»
    «Möglich, kann sein», erwiderte Serviss zerstreut. «Dann …»
    «Oder sein Blutzuckerspiegel ist plötzlich gesunken. Ich neige allerdings eher dazu …»
    «Verdammt, es ist doch ganz egal, warum, George! Er ist ohnmächtig geworden, basta!», rief Serviss verärgert und voller Ungeduld, mit seinem Bericht fortzufahren.
    «Tut mir leid, Garrett», sagte Wells kleinmütig. «Erzählen Sie weiter.»
    «Also gut. Wo war ich?», grummelte Serviss. «Ach ja, ich war ziemlich durcheinander; aber meine Verwirrung hielt nicht lange an, denn sie verwandelte sich ganz schnell in Gier, als ich bemerkte, dass der Beamte einen merkwürdig geformten goldenen Schlüssel um den Hals trug, mit zwei Bärten, die wie kleine Engelsflügel geformt waren. Mir war sogleich klar, dass es sich bei diesem Schmuckstück um den Schlüssel handelte, mit dem er die Wunderkammer aufschließen konnte.»
    «Und Sie haben ihn dem Mann gestohlen!», rief Wells empört.
    «Na ja …»
    Serviss zuckte die Achseln, nestelte seinen Hemdkragen auf und brachte ein Goldkettchen zum Vorschein, an dem der beschriebene Schlüssel hing.
    «Ich konnte einfach nicht widerstehen, George», entschuldigte er sich mit theatralisch niedergeschlagener Stimme. «Und es war ja auch nicht so, als würde ich einem Toten die Schuhe stehlen. Der Polizist war nur ohnmächtig. Ohn-mäch-tig.»
    Wells schüttelte tadelnd den Kopf, was reichlich riskant war bei der Menge Alkohol, die er sich so unbekümmert einverleibt hatte, denn sogleich wurde ihm schwindlig, und er hatte das Gefühl, auf dem Pferdchen eines Kinderkarussells zu sitzen. Serviss fuhr fort:
    «So kam ich also in jenen Saal, in dem man all das verborgen hält, was man aus den unterschiedlichsten Gründen beschlossen hat, der Welt vorzuenthalten. Und Sie glauben nicht, George, was dort alles verborgen gehalten wird. Wenn Sie das sehen könnten, würden Sie aufhören, Zukunftsromane zu schreiben, das versichere ich Ihnen.»
    Wells sah ihn misstrauisch an und versuchte sich auf seinem Stuhl geradezuhalten.
    «Doch das ist im Grunde alles Nebensache», fuhr Serviss fort. «Das Entscheidende fand sich ganz hinten, im letzten Winkel des Saals. Dort stand auf einem Podest eine Flugmaschine.» Er schenkte Wells ein langes Lächeln. «Ein wahrhaft merkwürdiges Gerät. Dass es fliegen konnte, war nur eine Vermutung der Wissenschaftler, die das Privileg genossen hatten, es untersuchen zu können, wie ich Blättern und Aufzeichnungen entnehmen konnte, die sich auf einem Tisch in der Nähe stapelten. Dort waren alle Einzelheiten der Entdeckung aufgezeichnet. Im Gegensatz zur
Albatros
, die Jules Verne in
Robur der Eroberer
beschreibt, besaß diese Apparatur weder Flügel noch Propeller. Sie war auch an keinem irgendwie gearteten Ballon befestigt. Sie sah eher aus wie ein Teller.»
    «Wie ein Teller?», fragte Wells ungläubig.
    Der von Verne beschriebene Flugapparat war aus Presspapier hergestellt und mit siebenunddreißig Stangenpropellern bestückt und hatte in Amerika einen richtiggehenden Wahn von Flugmaschinensichtungen hervorgerufen, was Wells seinerzeit bewogen hatte, skeptisch die Augenbrauen hochzuziehen, wenngleich er zugeben musste, dass diese Reaktion wohl eher von dem Unmut über die Erfolge des Franzosen hervorgerufen worden war, als von der Unwahrscheinlichkeit seiner Erfindung. Aber ein Teller?
    «Ja, ein Suppenteller oder, besser gesagt, ein Becken; so eines, wie es im Orchester zum Einsatz kommt», präzisierte Serviss und schlug die Handflächen gegeneinander, als wollte er eine Fliege zerklatschen.
    «Ein fliegender Suppenteller», fasste Wells zusammen, der es gar nicht abwarten konnte, mehr zu hören.
    «Genau. Wie ich den Aufzeichnungen entnehmen konnte, war der Apparat im Eis der Antarktis begraben und von einer Expedition dort entdeckt worden. Er schien gegen eine Bergkette geprallt zu sein, weit vom Meer entfernt, weshalb man auf den Gedanken kam, dass er fliegen konnte. Man kam aber nicht hinein, weil es keine Luke oder Ähnliches gab.»
    «Verstehe. Aber warum nahm man an,
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