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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
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als auch seine fliegende Untertasse im Museum allmählich Staub anzusetzen beginnen. Eines ist jedoch gewiss, mein lieber George, irdisch war dieses Ding nicht.»
    «Ein Marsmensch!», rief Wells, seiner Fassungslosigkeit freien Lauf lassend, als er begriff, dass Serviss mit seiner Erzählung fertig war. «Heiliger Gott im Himmel …, ein Marsmensch!»
    «Ja, ein Marsmensch, George. Ein hässliches Monster vom Mars», bestätigte Serviss. «Und dieser Schlüssel führt zu ihm. Ich habe ihn nur dieses eine Mal benutzt. Seitdem nicht wieder. Ich trage ihn noch als Talisman, der mich immer daran erinnert, dass wir in einer Welt leben, in der es mehr Unmögliches gibt, als wir Geschichtenschreiber es uns ausdenken können.»
    Er löste die Kette von seinem Hals und reichte sie Wells mit feierlicher Geste, als überreiche er ihm einen geweihten Gegenstand. Wells betastete sie mit größter Vorsicht; ihm war ebenso feierlich zumute wie Serviss.
    «Ich bin überzeugt, dass die wahre Geschichte unserer Zeit nicht von den Zeitungen und von unseren Historikern geschrieben wird», schwatzte er drauflos, während Wells den Schlüssel untersuchte. «Die wahre Geschichte ist für die meisten unsichtbar, verläuft wie ein unterirdischer Bach. Sie verläuft im Dunkeln und in aller Stille, George. Und nur ein paar Auserwählte kennen sie wirklich.»
    Mit einem geschickten Griff nahm er Wells den Schlüssel wieder ab und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden.
    «Wollen Sie den Marsmenschen sehen?», fragte er dann mit boshaftem Lächeln.
    «Was, jetzt?»
    «Warum nicht? Eine andere Gelegenheit werden Sie nicht bekommen, George. Denn, wie gesagt, wir Schriftsteller stehen in weniger hohem Ansehen als die Wissenschaftler, obwohl unsere Vorstellungskraft deren Erfindungen oft weit übertrifft.»
    Wells schaute ihn beunruhigt an. Er musste erst einmal alles verdauen, was Serviss ihm da erzählt hatte. Genau genommen bräuchte er ein paar Stunden Ruhe, damit das Karussell in seinem Kopf sich zu drehen aufhörte und er seinen Verstand wieder so weit klarbekam, dass er die Geschichte rational beurteilen konnte. Dann würde er sie vielleicht als falsch entlarven können, denn natürlich war es für ein alkoholumnebeltes Gehirn am angenehmsten, einfach zu akzeptieren, dass auch Unmögliches zum Bestand der Welt gehörte. In dem Zustand euphorischer Behaglichkeit, in dem er sich im Augenblick befand, hätte er es sogar begrüßt, wenn die Wirklichkeit, in der zu leben er gezwungen war, einen doppelten Boden besäße und ihre vom Menschenverstand gezogenen Grenzen zusammenbrächen und sich das, was dahinter war, mit ihr vermischte und eine neue Realität hervorbrächte, in der Magie in der Luft läge und die Phantasie, die in den Büchern zu Hause war, nichts als die treue Wiedergabe dessen wäre, was ihre Autoren erlebt hätten. War es das, was Serviss ihm sagen wollte? Wie das weiße Kaninchen, das Alice ins Wunderland geführt hatte, wollte dieses abgerissene Männlein ihn in die Wunderkammer führen und ihm so eine Welt zugänglich machen, in der alles möglich war. Eine Welt, in der ein Gott herrschte, der viel mehr Phantasie besaß als der jetzige. Aber so war die Welt nicht, so
konnte
sie nicht sein, und wenn er noch so sehr glauben wollte, dass es die natürlichste Sache der Welt wäre, doch so zu sein.
    «Haben Sie Angst?», fragte Serviss verwundert. «Ah, verstehe; das war vielleicht ein bisschen viel für Sie, George. Ihnen ist es vermutlich lieber, die Monster wohl verwahrt im Gefängnis Ihrer Phantasie zu wissen, wo sie keinen anderen Schaden anrichten können als den Schauder, den wir beim Lesen empfinden. Wahrscheinlich haben Sie nicht den Schneid, ihnen, losgelöst vom Papier, auch in der Wirklichkeit gegenüberzutreten.»
    «Selbstverständlich kann ich ihnen auch in Wirklichkeit gegenübertreten», erboste sich Wells über den Schluss, den Serviss gezogen hatte. «Das ist nicht das Problem, Garrett, sondern …»
    «Macht doch nichts, George, ehrlich, ich verstehe Sie», tröstete ihn Serviss. «Mich würde es ebenfalls grausen, einem leibhaftigen Marsbewohner zu begegnen. Einen Roman über sie zu schreiben, ist eine Sache; eine ganz andere dagegen …»
    «Und ob ich ihnen in Wirklichkeit gegenübertreten kann, verdammt noch mal!», schrie Wells und erhob sich mit der linkischen Eleganz eines Schimpansen. «Lassen Sie uns auf der Stelle losgehen, Garrett! Zeigen Sie mir diesen Marsmenschen, jetzt sofort!»
    Serviss
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