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Die Komplizin - Roman

Die Komplizin - Roman

Titel: Die Komplizin - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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sie ins Schloss. Was, wenn mich jemand sah? Ich wusste, dass sich die Familie von nebenan in Urlaub befand, weil deren Zimmerpflanzen währenddessen von uns  – oder vielmehr mir  – gegossen wurden. Der junge Mann, der oben wohnte, war zwar da, kam allerdings für gewöhnlich erst spätabends nach Hause. Außerdem war heute Freitag, also schon Wochenende. Womöglich aber lag er direkt über mir krank im Bett oder befand sich gerade auf dem Heimweg. Vielleicht bog er in genau diesem Moment von der Kentish Town Road ab und kam die kleine Gasse entlang, die Hand bereits in der Tasche, um seinen Schlüsselbund herauszufischen. Möglicherweise lief ich ihm direkt in die Arme, wenn ich die Haustür öffnete. Wie erstarrt blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen und lauschte angestrengt. Dann holte ich tief Luft und steuerte zielstrebig auf den Eingang zu, wobei ich mich bemühen musste, nicht zu rennen.
    Draußen auf der unbeleuchteten Straße war kein Mensch zu sehen. Die kleine Werkstatt direkt gegenüber hatte bereits geschlossen. Nur das Schild, das für TÜV und Reparaturen warb, bewegte sich langsam im Wind hin und her. Als ich im Laufschritt um die Ecke bog, war die Straße immer noch menschenleer, und einen Moment später hatte ich es hinaus auf
die Hauptstraße geschafft, wo ich erleichtert die Lastwagen, Pkws und Motorräder vorbeidonnern hörte. Leute, die ich nicht kannte, schlenderten allein oder in Grüppchen den Gehsteig entlang. Niemand hatte es eilig, denn es war Sommer und die Nachtluft angenehm warm.
    Da ich bisher noch nie eine Telefonzelle benutzt hatte, wusste ich nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Womöglich waren sie alle mit Brettern vernagelt und nutzlos, und das Telefon baumelte tot am Kabel. Ich bog nach links ab, eilte unter der Eisenbahnbrücke hindurch und dann mit großen Schritten weiter, bis ich schließlich eine rote Telefonzelle entdeckte. Drinnen roch es durchdringend nach Pisse, das Glas war mit Graffiti bedeckt, und ein einsamer Aufkleber warb für die Dienste einer auf Massagen spezialisierten Mischa. Ich durchwühlte meine Börse nach Kleingeld. Bitte sei daheim, bitte sei daheim, flehte ich lautlos, während ich wählte. Sie ging tatsächlich ran.
    »Bonnie? Alles in Ordnung?« »Ich brauche deine Hilfe. Jetzt sofort. In einer ernsten Angelegenheit.«
    »Lass hören.«
    Allein schon der Klang ihrer Stimme beruhigte mich.
    »Das geht nicht  – nicht am Telefon. Du musst herkommen.«
    Sie stellte keine unnötigen Fragen. »Alles klar. Bist du zu Hause?«
    Ich wollte sie schon zu Lizas Wohnung bestellen, doch dann fiel mir ein, dass sie ja gar nicht wusste, wo das war. Außerdem wurde mir rasch klar, dass ich besser gemeinsam mit ihr hinging, statt sie wie eine normale Besucherin dort auftauchen zu lassen. Deshalb vereinbarten wir, uns an der Telefonzelle zu treffen, und sie versprach mir, sofort zu kommen. Es war nicht weit.
    Während ich draußen vor der Zelle wartete, betrachtete ich mit starrem Blick die Leute, die Platanen, die orangegelben
Straßenlampen, den verschwommenen, anthrazitgrauen Horizont. Alles kam mir seltsam unwirklich vor, als starrte ich auf ein leicht unscharfes Foto. Nachdem ich kurz mein Handy eingeschaltet hatte, um zu sehen, wie spät es war, begann ich nervös auf und ab zu wandern, zehn Schritte in die eine Richtung, zehn in die andere. Ich wollte Sonia auf keinen Fall verfehlen. Dabei wusste ich ja, dass sie selbst dann mindestens zehn Minuten brauchen würde, wenn sie sofort im Anschluss an unser Gespräch das Haus verlassen hatte. Obwohl ich schon seit Jahren nicht mehr rauchte, ging ich in den rund um die Uhr geöffneten Laden und erstand eine Packung Silk Cut sowie eine Schachtel Streichhölzer. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm ein paar tiefe Lungenzüge, woraufhin mir sofort unangenehm schwummrig wurde. Außerdem musste ich laut und lang husten, doch wenigstens hatte ich nun etwas, das mich beschäftigte, während ich wartete.
    Ich fragte mich, ob es ein Fehler war, Sonia um Hilfe zu bitten. Überhaupt jemanden um Hilfe zu bitten. Die Antwort lag auf der Hand: Natürlich war es ein Fehler. Alles war ein Fehler, aber was blieb mir anderes übrig? Wen sollte ich sonst fragen? Auf wessen Rat sollte ich mich verlassen? Ich rauchte eine zweite Zigarette, diesmal schon mit etwas mehr Erfolg, und trat hinterher unnötig lange mit dem Absatz auf der Kippe herum.
    Endlich war sie da. Sie trug eine graue Strickjacke und hatte
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