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Die kleinen Gärten des Maestro Puccini: Roman (German Edition)

Die kleinen Gärten des Maestro Puccini: Roman (German Edition)

Titel: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini: Roman (German Edition)
Autoren: Helmut Krausser
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Betrachtenswertes. Auf den scheußlich neumodischen, türkisgrünen Plastikbänken links und rechts der Ulme saßen je zwei der vier Lamberti-Schwestern und fütterten Kohlmeisen mit zu Krümeln zerriebenen Pinienkernen. Die Vögelchen waren ganz verrückt danach, hüpften zwischen den verlotterten Astern aufgeregt hin und her und kamen auf die Hand geflogen, wenn man lange genug wartete.
    Maria Anna erinnerte sich, auf diese Art mal einen Vogel, damals wars ein ordinärer Spatz, gefangen zu haben, ihre Hand ahmte den dazu notwendigen schnellen Griff nach, und während sie so das bizarr wie pittoresk schwarz-in-schwarz gekleidete Quartett der Lamberti-Schwestern beobachtete, ertappte sie sich dabei, ihnen Vorwürfe zu machen. Es gehört ein wenig Mut dazu, die Finger um einen flatternden Vogel zu schließen, doch wehrt er sich dann nicht, ist hilflos, man kann ihn ansehen, kann Zwiesprache mit ihm halten, kann ihm so manches beschwichtigende oder alberne Wort an den Kopf werfen, er wird es hinnehmen und am Ende dankbar fortfliegen, die dummen Lamberti-Schwestern ahnten nicht, wie lange man sich mit derlei Spielchen amüsieren konnte. Alle hatten Fußknöchel dünn wie Besenstangen. Überhaupt – ein grotesker Anblick – daß vier Schwestern, alle über achtzig, ihr Leben in ein und demselben Seniorenheim ausklingen ließen, als hätten sich der Tod, die Liebe oder das Abenteuer für keine von ihnen je interessiert – wo gab es das? Es schien geradezu rekordverdächtig. Können vier Leben so gleichmäßig banal, ohne Irritationen verlaufen, daß sie auf so wenig Raum zum Ende kommen? Alle hatten sie geheiratet, alle waren sie verwitwet, nein, so ungewöhnlich schien das ja nicht, warum eigentlich?
    Fast alle Turiner lieben ihre Stadt und bleiben ihr verbunden. Die meisten Turiner sterben, bevor sie fünfundsiebzig werden, die meisten Turinerinnen, sofern sie nicht rauchen oder Pech haben, überleben ihre Männer, übrig bleibt manchmal eben so etwas – vier sehr alte Mädchen, die das Leben weit genug links liegen gelassen hatte, damit sie, noch bei bester Gesundheit, Kohlmeisen füttern konnten. Nur – wozu? Die Frage mußte doch erlaubt sein. Gott ließ jede Frage zu. Antworten gab er selten, höchstens Zeichen. Wie gerne ich unten bei den Lamberti-Schwestern sitzen und mich einmischen möchte, und seis nur, um ihnen zu sagen, wie sehr sie doch unter ihren Möglichkeiten bleiben, wenn sie von den Vögeln so gar nichts fordern. Gott, ich werde eigenartig, entwickle, wie sagt man, Schnurren?
    Hüpfende Kohlmeisen zwischen mumifizierten alten Weibern. Maria Anna suchte im Radio nach Musik. Die meisten Sender brachten nachmittags nur seichte Schlager oder Krach.
    Wenn, wie so oft am Abend, Musik von IHM kam, schaltete sie ab, überfordert. Denn ER hatte sie geküßt von oben bis unten, ausnahmslos.
    Besser als Kohlmeisen gefielen ihr die Saatkrähen – oder nannte man sie Dohlen? –, deren weite Sprünge immer leicht taumelig wirkten und bei der Landung durch winzige Körperbewegungen nachgebessert wurden. Die Schnäbel halb offen, die Flügel kaum einmal zu einem Schlag hervorgeholt, vermittelten die schwarzgrauen Krähen – Krähenvögel waren es ganz sicher, ob nun Dohlen oder nicht – einen Spaß am Leben, der manchmal in Spott, nie jedoch in Übermut mündete. Aber das war wohl nur Interpretation, und Maria Anna, geistig noch ganz klar (befand sie apodiktisch stolz), ärgerte sich ein wenig darüber, den Krähen sentimental etwas anzudichten, was in Wahrheit wohl nur Revierkampf und Nahrungssuche bedeuten mochte, günstigstenfalls ein Vorspiel zum Balztanz war.
    Einen Augenblick, einen köstlichen Augenblick lang, hatte sie gestern die Lust bedrängt, ihrem Pancrazio alles zu erzählen. Nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Später könnte sie ja behaupten, einen Witz gemacht zu haben. Er wäre nach so vielen Jahrzehnten noch eifersüchtig geworden, zornig, er hatte nie gefragt, warum ihre Hochzeitsnacht so blutleer verlaufen war. Nie hat sie ihm die Geschichte vom Pferd erzählen müssen, die sie sich für diesen Fall bereitgelegt hatte.
    Man macht in seiner Jugend Fehler, dazu ist die Jugend da. Als 1911 der Krieg in Libyen begann, protestierte nur der Sozialist und Pazifist Mussolini. Die meisten haben das vergessen. Der Mensch ist wandlungsfähig.
    Sie zögerte, versuchte ihre Gedanken zu ordnen und sah auf die hüpfenden (Saat-? Nebel-?) Krähen.
    Der Vertrag ist juristisch sicher nicht mehr
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