Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kleinen Gärten des Maestro Puccini: Roman (German Edition)

Die kleinen Gärten des Maestro Puccini: Roman (German Edition)

Titel: Die kleinen Gärten des Maestro Puccini: Roman (German Edition)
Autoren: Helmut Krausser
Vom Netzwerk:
mit den Lippen: Tropposcuro !
    Tonio geht zum Fenster, zieht eine der Jalousien halb hoch. Blendendes Licht fällt herein, entfernter Straßenlärm ist zu hören.
    Puccini röchelt. Versucht zu grinsen. Zu dunkel. Bin ich Goethe? Werden das meine letzten Worte sein?
    Ich würde dir jetzt gerne etwas sagen, Sohn. Ich kann es nicht sagen, kaum in Gedanken ausdrücken, und es ist keine Zeit mehr, es aufzuschreiben. Aber ich erinnere mich an einen Morgen, vor, wann war das, zwanzig Jahren, als ich Enten schoß und beobachtete, wie der Tag in all seiner Gleichgültigkeit über den Massaciuccoli-See kam. Ich hatte, was Künstler nicht tun sollen, die ganze Nacht ein uraltes Werk überarbeitet, meinen Zweitling, damit er in Buenos Aires nicht wie ein verstoßener Erstling klingen würde, ich war betrübt und voller Wut, weil ich mich verfolgt fühlte, verraten selbst von meinen Freunden, so verliebt, rettungslos verliebt war ich gewesen, aber das sind andere Geschichten, ich kam aus London, aus Paris, fuhr nach Genua, um mich meines Sterns, meines Erfolgs zu vergewissern, wie ein Süchtiger, was für ein Leben, wenn noch bei der neunten Aufführung dreitausend Menschen dich auf Händen tragen wollen, nächste Station war Rom, der Anwalt Campanari vom Verlag hatte mich auf die Idee gebracht, das sei doch eine gute Idee und im Terminplan gut unterzubringen, dort habe ich dich endlich legitimiert, dich uneheliches Kind, du hast dich wohl oft gefragt: Warum so spät? Ich weiß keine Antwort, die glaubhaft klingt. Der Rausch. Soviel Leben. So wenig Zeit. Und nicht genug Sterben. Elviras Exmann mußte erst abkratzen, bevor ich deine Mutter, nach zwanzig Jahren, heiraten durfte. Man kann es andersrum formulieren: Er durfte abkratzen – und ich mußte ran. Der alte Ricordi hat mich so unter Druck gesetzt, wegen Cori, ich hätte dir so gern einmal von ihr erzählt, ausführlicher, nicht nur das, was du schon weißt. Die ganzen Lügen. Ich lag ja mit zerschmetterten Knochen im Bett, wehrlos ausgesetzt der Gemeinheit. Alle setzten mich unter Druck, hockten auf meiner Brust, schrien mich an, flüsterten mir ein, ich solle Cori fahren lassen, wie einen Furz. Raus mit der schlechten Luft! Ein Exorzismus im Gewand der Krankenpflege! Warum? Warum ist das alles so geschehen? Aber ich schweife ab, vermische Geschichten. Was wollte ich erzählen? Daß ich mich hingesetzt habe, an jenem Regentag im November, um ein kleines Zehnminutending zu schreiben, ein Requiem zum vierten Todestag Verdis, wie um eine Dankesschuld abzutragen, ich habs gemacht, ein wenig widerwillig, wie unter innerem Zwang, eine schlichte Sache für Orgel, Viola und Chor. Die Violamelodie kam von einer sterbenden Ente. Ganz ehrlich. Es ist auf meinen Wunsch hin nie öffentlich aufgeführt worden, außer einmal, bei der Trauermesse in der Kapelle der Casa di Riposo, die fünfzig Insassen, nein, die Bewohner des Altersheims haben es gehört, hat ihnen, glaub ich, gefallen, jetzt, nach zwanzig Jahren, sind sie bestimmt alle tot, krepiert, es gibt keine Ohrenzeugen mehr, ich hätte selber gern, wie Verdi, so ein Altersheim für Musiker gegründet, warum denn auch nicht, aber ich mochte nichts, was mit dem Alter zu tun hat, und hatte keine Zeit, hab soviel Geld und Zeit verschwendet, kindisch, eigensüchtig, auch geizig, deine Mutter warf mir meinen Geiz vor, sie hatte dabei stets Kleider genug, mein Sohn, aber das Requiem, immerhin – es ist knapp, das Stück, ganz simpel im Grunde, doch von enormer Wirkung, eins der besten Werke, das ich nicht für die Bühne geschrieben habe. Ich war zornig damals, habe mit einem Revolver gejagt, den mir ein französischer Großherzog geschenkt hat, mit einem Revolver, ganz unwaidmännisch, stillos, das ist egal. Den Enten zumindest wars egal. Bestimmt. Und heute denke ich, diese Melodie, d-moll, die ich im Geiste notierte, während ich zerschossene Enten in einen Sack stopfte, du weißt, ich habe in den letzten Wochen die Sterbemusik für die Liu geschrieben, nicht übel, gar nicht übel, damals aber habe ich meine Sterbemusik geschrieben und großzügig an Verdi verschenkt, um nicht als undankbar dazustehen, oder unbescheiden, ach, Mozart hatte Glück, er schrieb sein Requiem und konnte es behalten, indem er drüber starb, bin ich neidisch? Nein, Neid oder Geiz sind es nicht – du würdest es nicht begreifen, du lieber und durchschnittlicher Sohn, ich danke dir ja letztlich von ganzem Herzen für deine Durchschnittlichkeit. Was will ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher