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Die Katze namens Eisbär

Die Katze namens Eisbär

Titel: Die Katze namens Eisbär
Autoren: Cleveland Amory
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Schlafzimmerfenster hinauf möchte, um auf den Balkon hinauszuspringen und nachzusehen, was die Tauben treiben, würde er sich, wie ich das täte, mannhaft und ohne Klage aus eigener Kraft hochhieven? Nie im Leben. Er trottet zum Fenster, bleibt stehen, sieht mich an, miaut wie am Spieß und wartet unerschütterlich, bis ich ihm alle Arbeit abnehme und ihn hochhebe. Und das, obwohl ich mit eigenen Augen gesehen habe, daß er springen kann wie ein Delphin, wenn er es eilig hat hinauszukommen.
    Aber das ist noch nicht alles. Er besitzt tatsächlich die Frechheit, sich einzubilden, seine Schmerzen seien genauso quälend wie meine. Immer wieder habe ich ihn darauf hingewiesen, daß es absurd ist zu behaupten, sein winziges Beinchen, das mühelos in meine Hosentasche passen würde, könne ebenso stark schmerzen wie mein ausgewachsenes Menschenbein. Aber er glaubt mir nicht. Ich kann mir sein Festhalten an seiner Wahnvorstellung nur damit erklären, daß die Schmerzen einzig in seinem kleinen Hirn existieren – das wiederum nur etwa ein Zehntel der Größe meines Hirns hat.
    Es liegt mir fern, Eisbärs geistige Fähigkeiten herabzusetzen, auch wenn das jetzt so klingt. Eisbär ist und war vom ersten Tag unseres Zusammenlebens an ein sehr kluger Kater. Er ist außerdem, falls ich das noch nicht klar genug zum Ausdruck gebracht haben sollte, ein sehr schöner Kater. Und er ist schließlich ein sehr liebenswerter Kater. Andere mögen davon wenig merken, mir wenigstens zeigt er es deutlich. Und das beweist mir, daß er nicht nur klug, schön und liebenswert ist, sondern auch über hervorragende Menschenkenntnis verfügt.
    An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, daß ich mir vor kurzem eine zweite Katze zugelegt habe – besser, die Katze hat sich mich zugelegt. Es geschah auf einer Reise in das bevorzugte Urlaubsparadies der Bostoner, Martha’s Vineyard, wo ich einen Vortrag zu halten hatte. Am Abend nach dem Vortrag besuchten Marian und ich eine alte Freundin, die Künstlerin Ruth Emerson, die mit einer Schar Waschbären und Stinktieren in der Nähe von Martha’s Vineyard lebt und die Tiere auf eine Weise versorgt, wie wir es auf der »Black Beauty Ranch« nicht besser machen könnten.
    Es war ein sehr erfreuliches Beisammensein, das sich bis in die frühen Morgenstunden meines letzten Aufenthaltstags hinzog. An diesem letzten Tag jedoch beging ich einen schweren Fehler. Ich besuchte das örtliche Tierheim. Und als ich dort zwischen den Käfigen in der Katzenabteilung hindurchging, klatschte mir plötzlich eine große Pfote auf den Hinterkopf. Als ich mich verdutzt umdrehte, sah ich direkt in die blauen Augen eines weißen Katers, und schon war es um mich geschehen.
    Tatsächlich war diese scheinbare Zufallsbegegnung, wie ich später erfuhr, sorgfältig inszeniert worden. Freunde hatten, glaube ich, den Kater praktisch darauf dressiert, jedem weichherzigen Gimpel, der vorüberkam, hilfesuchend die Pfote entgegenzustrecken. Sie wußten natürlich, daß dieser kleine Kater das Abbild Eisbärs war, wie er mir an jenem verschneiten Weihnachtsabend das erstemal begegnet war. Der einzige Unterschied war, daß dieser Kater blaue Augen hatte und nicht grüne wie Eisbär, und daß er an den Vorderpfoten sechs statt fünf Zehen hatte. Meine raffinierten Freunde hatten genau gewußt, daß ich ihm unmöglich würde widerstehen können.
    Eisstern, wie ich ihn taufte, war herrenlos hier draußen auf dem Land gefunden worden. Seine Familie hatte ihn nach Beendigung ihres Urlaubs kurzerhand ausgesetzt und ihre Tat, wie das solche Leute meist zu tun pflegen, vermutlich mit der Begründung gerechtfertigt, daß eine Katze sich überall irgendwie durchschlagen könne. Und irgendwie hatte Eisstern sich tatsächlich durchgeschlagen, wenigstens so lange, bis ein Tierfreund ihn gefunden und ins Tierheim gebracht hatte. So ähnlich er Eisbär rein äußerlich ist, so sehr unterscheidet er sich in seinem Temperament von ihm. Er ist zutraulich und geht ohne Hemmungen auf jeden zu. Manchmal ähnelt er fast mehr einem Hund als einer Katze.
    Einige unter Ihnen, besonders diejenigen, die sich daran erinnern, wie wenig Eisbär für andere Katzen übrig hat, werden sich gewiß daran stoßen, daß ich plötzlich mein Herz für eine andere Katze entdeckte. Aber lassen Sie mich erklären: Ich hatte von Anfang an nicht einen Moment die Absicht, Eisstern zu mir in die Wohnung zu nehmen. Eisbär bringt zwar den herrenlosen Katzen, die gelegentlich eine
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