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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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hatte die Nummer wiederholt, um sicherzugehen, dass sie sie richtig notiert hatte. Dann hatte sie gefragt: »Was für einen Hund haben Sie?«
    »Einen Irish Setter.«
    »Na, ich rate Ihnen, das Telefonbuch in Zukunft gut zu verstecken. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    »Nein, vielen Dank. Haben Sie denn noch meine aktuelle Adresse?«
    Die Frau hatte gesagt: »Einen Moment, ich schau nach. Da hab ich’s. Sie wohnen 621 Crown Street, Brooklyn, New York, richtig?«
    »Absolut richtig.«
    »Einen schönen Tag noch.«
    »Das will ich hoffen«, hatte Lincoln gesagt und aufgelegt.
    Von seinem Versteck im dritten Stock des leer stehenden Krankenhauses aus sah Lincoln, wie ein farbiger Teenager auf einem Skateboard an der Nummer 621 Crown Street vorbeisauste. Als die Dämmerung das Viertel einhüllte und die Straßenlaternen angingen, hielt ein Taxi vor dem Gebäude und eine Gruppe von Leuten mit Dreadlocks und bunten Halstüchern, vermutlich Nicaraguaner, stieg aus und verschwand in dem Haus. Lincoln stellte sich auf eine lange Nacht ein und nahm das Gebäude gegenüber durchs Zielfernrohr genauer in Augenschein. Alle Fenster in den ersten fünf Stockwerken hatten billige Rollos, einige geschlossen, einige halb hochgezogen. Die Leute, auf die er durch das eine oder andere Fenster einen Blick werfen konnte, sahen entweder aus wie Puerto-Ricaner oder waren Schwarze. Das gesamte oberste Stockwerk wurde anscheinend von der Zielperson bewohnt, denn sämtliche Fenster waren mit Jalousien versehen, die bis auf eine dicht verschlossen waren. Durch die Jalousie, bei der er durch die Lamellen schauen konnte, erkannte er eine Küche mit einem enormen Kühlschrank und einem Gasherd mit zwei Backöfen. Eine stämmige schwarze Frau mit Schürze war offenbar dabei, das Abendessen zuzubereiten. Hin und wieder kamen Männer in die Küche. Einer von ihnen hatte sein Sportsakko ausgezogen, und Lincoln konnte eine großkalibrige Pistole in einem Schulterhalfter erkennen. Die schwarze Frau öffnete den oberen Backofen, um Fett über eine Gans oder Pute zu löffeln, dann bereitete sie zwei große Hundenäpfe vor. Als sie die Fressnäpfe auf den Boden stellte, rief sie anscheinend jemandem in einem anderen Raum etwas zu. Gleich darauf kamen zwei Barsois in die Küche gefegt und verschwanden unter der Fensterbank außer Sicht.
    Lincoln räumte den Schutt beiseite, setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand auf den Fußboden und genehmigte sich einen Schokoriegel und einen halben Becher Joghurt. Alles in allem war er erleichtert, dass er und nicht Martin Odum die Sache erledigte. Martin war kein guter Schütze. Er war zu ungeduldig, um sich an ein Ziel heranzupirschen und im richtigen Augenblick mit Gefühl abzudrücken, zu kopflastig, um kaltblütig zu töten, wenn er nicht von Leuten wie Lincoln Dittmann oder Dante Pippen angestachelt wurde. Kurzum, Martin war emotional zu anfällig, zu eigenwillig. Wenn ein eingefleischter Scharfschütze wie Lincoln auf ein menschliches Ziel schoss, dann spürte er einzig und allein den Rückstoß des Gewehres. Das Ziel auskundschaften, sich Zeit lassen, seelenruhig, um auf Nummer Sicher zu gehen, nur ein einziger Schuss pro Ziel, da war Lincoln in seinem Element. Schon als Kind in Pennsylvania hatte er ein Gewehr gehabt, mit dem er auf den Feldern hinter dem Haus in Jonestown Jagd auf Kaninchen und Vögel machte.
    Mit der Dunkelheit kam die Kälte. Lincoln zog sich Martin Odums Mantel fester um den Körper, schlug den Kragen hoch und döste. Bilder von Soldaten, die mit weißen Stirnbändern auf eine lange Steinmauer zustürmten, wirbelten ihm durch den Kopf. Er konnte Kanonenschüsse und prasselndes Gewehrfeuer hören, während Rauch und Tod über das Schlachtfeld trieben. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, um einen Blick auf die Leuchtzeiger seiner Uhr und auf das Gebäude gegenüber zu werfen. Als er erneut in einen unruhigen Schlaf sank, wurde er in eine heiterere Umgebung versetzt. Magere Frauen in hauchdünnen Kleidern warfen Münzen in eine Jukebox und wiegten sich eng umschlungen zu den Klängen von Don’t Worry, Be Happy. Die Musik verklang, und auf einmal atmete Lincoln die negativen Ionen eines Springbrunnens auf dem Gianicolo-Hügel in Rom ein. Eine elegant gekleidete Frau und ein Zwerg in einem knielangen, bis zum Hals zugeknöpften Mantel gingen vorbei. Lincoln hörte sich sagen: Mein Name ist Dittmann. Wir haben uns in Brasilien kennen gelernt, in Foz do Iguaç ú . Ihr Tagesname war
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