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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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Lucia, ihr Nachtname war Paura. Er konnte hören, wie die Frau aufgeregt erwiderte: Ich erinnere mich an Siel Ihr Tagesname ist zufällig derselbe wie Ihr Nachtname, nämlich Giovanni da Varrazano.
    In seinem Traum lief Lincoln der Frau hinterher, die weiter den Hügel hinunterging. Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie, bis sie sich bereit erklärte, für den Rest ihres Lebens mit ihm zusammen in der Toskana Polyesterschafe zu züchten.
    Als er wieder zu dem Gebäude gegenüber sah, bemerkte Lincoln, dass im Osten die ersten schwachen, ockergelben Flecken den dunklen Himmel über den Dächern verfärbten. Die Vorbereitungen waren alles in allem doch einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Er war über kleine Seitenstraßen zu dem Hof von Xings Restaurant gelangt. Mit einem alten Bootshaken, der hinter einem verrosteten Kühlschrank versteckt war, hatte er den unteren Teil der Feuertreppe heruntergezogen und war dann nach oben aufs Dach gestiegen. Die Bienen hatten Martins Stöcke längst verlassen. Neben dem Stock, der anscheinend explodiert war, waren auf der Teerpappe Flecken zu sehen, die aussahen wie getrocknete Melasse. Lincoln holte den Schlüssel hervor, den Martin hinter einem lockeren Ziegelstein in der Brüstung versteckt hatte, schloss die Dachtür auf und stieg hinunter in Martin Odums Billardsaal. Er ging durch die dunkle Wohnung zu dem Billardtisch, den Martin als Schreibtisch benutzt hatte, und entnahm dem Mahagoni-Humidor eine einzige Papierpatrone. Lincoln selbst hatte die Munition etliche Jahre zuvor selbst gefertigt, mit Schwarzpulver, das er auf einer Apothekenwaage abgewogen hatte. Er steckte die Patrone in die Tasche, nahm die Whitworth und blies den Staub vom Schussmechanismus. Die Waffe war erstaunlich leicht, wunderschön gefertigt, hervorragend ausbalanciert und lag herrlich in der Hand. Diese Whitworth hatte ursprünglich ihm gehört. Er konnte sich nicht erinnern, wie sie in den Besitz von Martin Odum gelangt war. Er nahm sich vor, ihn demnächst danach zu fragen. Er wischte die Fingerabdrücke von dem Gewehr, wickelte es in einen von Martin Odums Mänteln und hängte es sich quer über den Rücken. Dann zog er sich ein Paar dicke Arbeitshandschuhe über, die er in einem Karton fand, und ging wieder hinunter in die Gasse hinterm Haus, wo er am Morgen die Einkaufstüte mit Lebensmitteln deponiert hatte. Schließlich machte er sich auf den Weg durch die menschenleeren Straßen von Crown Heights zu dem wuchtigen Gebäude, in dessen Steinsockel der Schriftzug »Carson C. Peck Memorial Hospital« und die Jahreszahl »1917« eingemeißelt waren. Hineinzugelangen erwies sich als relativ unkompliziert. Auf der Rückseite des Krankenhauses hatten Obdachlose ein Loch in den Zaun geschnitten, den die Abbruchfirma um das Grundstück gezogen hatte, und im Erdgeschoss war eine Tür angelehnt. Sobald er im Gebäude war, duckte Lincoln sich erst mal, um die Lage zu sondieren. Gleich darauf hörte er gedämpft von unten aus dem Treppenhaus ein Husten, was darauf schließen ließ, dass die Obdachlosen es sich im Keller gemütlich gemacht hatten.
    Die Ockerstreifen waren heller geworden und hatten die Dächer in Silhouetten verwandelt. Lincoln massierte sich die Kälte und Steifheit aus den Armen, stand auf und trottete in eine Ecke des Raumes, wo er gegen die Wand pinkelte. Als er zurück zum Fenster kam und sich hinter die Fensterbank hockte, sah er Licht in dem Küchenfenster im obersten Stock. Die schwarze Frau trug jetzt einen Morgenmantel und kochte zwei große Kannen Kaffee. Als der Kaffee fertig war, stellte sie acht Tassen auf ein Tablett, füllte sie und trug sie aus der Küche. Unten, im Eingang von Nummer 621, tauchten zwei nicaraguanische Frauen in langen Wintermänteln mit leuchtenden Schals und Strickmützen auf und eilten in Richtung U-Bahn auf dem Eastern Parkway. Zwölf Minuten später fuhr ein schwarzer BMW vor. Der Fahrer, ein großer Mann mit einem knielangen Ledermantel und einer Chauffeursmütze, stieg aus und lehnte sich gegen die offene Tür. In der Kälte bildete sein Atem weiße Wölkchen. Der Mann sah mehrmals auf die Uhr und stampfte mit den Füßen auf, damit sie nicht taub wurden. Er holte einen Zettel hervor und verglich das, was darauf stand, mit der Nummer über dem Eingang. Anscheinend war er beruhigt, als er die zwei Männer sah, die durch die schwere Tür von Nummer 621 Crown Street auf die Straße traten. Beide trugen zweireihige Seemannsjacken mit
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