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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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gespenstisch.
    Und war falsch, falsch, falsch! Der Zeigefinger! Gemacht habe ich das nur wegen des einzigen Satzes, den jeder kennt aus der Antigone. Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch. Sie haben ihn behalten.
    Entschuldigen Sie, den Satz kannte ich schon vor Ihrer Inszenierung.
    Den Satz kann heute keiner mehr aussprechen. Sage ich. Den kann man denken, lesen, aber nicht sagen. Darum die Transparente! Die Cheerleader Girls tragen den Satz zehnmal hinter einander. Und dazu hätten sie ihren Trommelpfeifmusiklärm machen müssen, dass jeder, der sehen will, sieht: Oben die feinen Sprüche, an die keiner mehr glaubt, unten das tosende Leben. Es war eine Qual, dieses Stück der Unglückshäufung zu inszenieren. Muss das sein? Darf das sein? Gehorsam, Herr Professor. Zugeben, wir sind unrettbar. Das habe ich inszeniert, ohne daran glauben zu wollen. Ungeheuer ist viel und nichts ist ungeheurer als der Mensch. Das zehnmal hinter einander. Ich hätte nicht gewusst, wie ein Chor das hätte aussprechen sollen. Zehnmal hinter einander. Der Zuschauer ist selber schuld, wenn er es zur Kenntnis nimmt. Eine höchst indirekte Mitteilung.
    Und je wichtiger die Mitteilung, desto indirekter.
    Sie sind ein Regisseur, Herr Professor.
    Ich inszeniere jeden Tag Auftritte und Szenen. Das stimmt schon.
    Ich habe bei Ihnen gelernt, dass das, was wir wahrnehmen, nicht das Wahrgenommene ist, sondern das, was unser Gehirn daraus macht.
    Die Netzhäute sind nach außen verlagerte Teile des Gehirns. Was wir sehen, wie wir sehen, ob wir sehen, alle Wahrnehmung ist doch eine Botschaft aus dem Innersten. Natürlich war schnell klar, was eine Aufregung in Ihrer Sehnervenkreuzung angerichtet hat, aber dann kamen Sie! Ihre unwillkürliche Gegensteuerung. Das hat dem Fachmann imponiert. Wie Sie mir diesen Prozess verkauft haben, Sie verzeihen mir das derbe Wort, das wurde mir zu einer Geschichte. Ich habe gelernt. Und gestaunt.
    Ich habe gespürt, zu wem ich rede.
    Jetzt sprechen wir von Frau Wiese?
    Die gekündigt hat, heiraten muss, nach Schweden muss. Ein unwürdiger Verlauf. In einem Theaterstück würde man sagen: Unbefriedigend. Eigentlich unannehmbar.
    Machen Sie’s annehmbar, mein Lieber. Auf der Bühne. Was hier nicht geht, dort geht’s vielleicht.
    Unwürdig bleibt unwürdig. Das heißt: Unglaubwürdig. Und das heißt: Ich glaube nicht daran. Tut mir leid, ich kann nicht.
    So werde ich doch noch zum Akteur. Die von mir immer hoch geschätzte Frau Wiese, die ich habe in eine schicksalsähnliche Verstrickung geraten sehen, die sich mir gegenüber sehr schnell offenbart hat, um den Vorgang von allem Skandalhaften zu befreien, die ist jetzt, das heißt gestern, zu mir gekommen, hat mich gebeten, ihre Kündigung rückgängig zu machen, sie hier arbeiten zu lassen. Unter zwei Bedingungen: Sie kann hier erst wieder arbeiten, wenn Professor Augustus Baum nicht mehr Patient ist. Zweitens: Nicht mehr als Nachtschwester. Nie mehr, hat sie gesagt. Und weil sie nichts als schätzenswert und einfach umfassend talentiert ist, habe ich zugestimmt! Sie wird von jetzt an Leitende Schwester sein. Diese Stelle ist gerade frei geworden. Aber da ich Sie hier zum Gehen gekleidet finde, darf ich annehmen, dass ich nicht der Bote von ganz Neuem bin.
    Ich danke Ihnen. Ich setz mich noch einen Augenblick. Lieber Herr Professor. Adieu.
    Ein Händedruck, eine letzte Verständigung durch Gesten.
    An der Tür dreht sich der Professor noch einmal um, sieht, dass Augustus steht wie erstarrt, nimmt das wahr und reagiert dann als Arzt.
    Und wenn es in der Sehnervenkreuzung noch einmal zu einer Kollision kommt, bitte, zählen Sie auf mich. Ich bin immer da für Sie. Adieu.
    Dann geht er. Augustus kommt nicht bis zum Tisch. Er fällt sozusagen auf das Sofa und sitzt halb und liegt halb und rührt sich nicht mehr. Er hat so lange ausgehalten, hat so lange nicht merken lassen, wie ihn, was der Professor mitteilte, traf. Jetzt ist seine Fassung hin. Jetzt weiß er nicht mehr, wie er, was ihm gesagt wurde, ertragen soll. Zusammenbrechen? Wahrscheinlich geht dergleichen in ihm vor. Jetzt liegt er halb und sitzt halb und ist nichts als erstarrt. Wenn er es in ein Wort fassen müsste, hieße das vielleicht: Unzumutbar. Ja, doch. Das träfe, wie ihm zumute ist, am ehesten: Unzumutbar.

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    13
    Augustus fängt an, sich zu bewegen. Er vergewissert sich. Ist die linke Hand noch beweglich? Und die rechte? Kann er sich aufrichten? Die Beine, was
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