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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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Partie Lippen zu nennen war ein wunderbarer Einfall, um diese Partie zu zivilisieren.
    Dann wird von Lydia die most fitting Jeans so hochgebändigt, dass zwischen den Schenkeln wieder ein Lichtraum entsteht in Form eines Vierkantschlüssels von beträchtlicher Größe.
    Ich hätte euch beide lieben können. Ihr aber könnt nur lieben, wo ihr herrscht. So absolut herrscht, wie auf keinem anderen Feld mehr geherrscht werden darf. Erst wenn die Menschheit von eurer Herrschsucht befreit ist, kann auf der Erde Friede einziehen. Das werde ich nicht mehr erleben. Zu sehr sind alle Fähigkeiten und Gewohnheiten unserer Seele und unseres Körpers formiert, deformiert von dem Herrschsuchtsgebot eures Monismus. Aber ich weiß, dass eine Zeit kommen wird, in der wird man eure Herrschsucht nicht mehr Liebe nennen dürfen. Bis dahin seid ihr meiner Verachtung sicher.
    Ich müsste wieder lügen. Dich anlügen oder dich. Ich müsste sagen: Ich liebe NUR dich. Dann dürfte ich kommen und ginge wieder im edelsten Joch, das Treue heißt.
    Noch weiß ich nicht, wie ich ohne euch leben soll. Verlangt wird: die Bereitschaft, eines der unzähligen Opfer zu sein, geschlachtet auf dem Ehealtar.
    Ihr seid selber Opfer der Kultur, die um euretwillen entstanden sein will. Beispiel: die Liebe zur Mutter. Die schönste und unschuldigste Liebe überhaupt. Diese Liebe wurde erfolgreich verdächtigt. Obwohl jeder wissen kann, dass Ödipus, als er mit Jokaste schlief, gar nicht wissen konnte, dass das seine Mutter ist, wird diese Liebe benützt, alle Sohnesliebe sexuell zu verdächtigen. Dass das gelungen ist, zeigt, wie hoffnungslos es ist, unsere Liebesverfassung verständlich zu machen. Alles dient undurchschauten Interessen. Unsere Träume wurden von einer sich wissenschaftlich gebärdenden Unterstellungsdisziplin mit inquisitorischem Eifer zur Indiziensammlung erniedrigt. Und es gibt kein reineres und kein unschuldigeres Geschichtsbuch als unsere Träume. Pan-Sexualismus ist angesagt. Und als ihnen das selbst zu viel wurde, haben sie noch schnell das Sublimieren erfunden. Die Frau als Sexsache. Die Moralindustrie blüht.
    Heraus aus allem! Lass es hinter dir wie Kleider, die dir nie gepasst haben!
    Unabhängigkeit! Das ist die letzte Utopie! Die letzte Unabhängigkeitserklärung, die noch zu leisten ist. Danach wäre auf dieser Erde an Freiheit zu denken. Aber wenn ich an diese Erklärung denke, bin ich sofort gelähmt.
    Ich? Wer ist das noch? Bin ich per Du mit mir? Nein. Ich bin nicht mehr per Du mit mir. Ich muss mich behandeln, wie ich mich noch nie behandelt habe.
    Frieren Sie?
    Ja.
    Wie fühlen Sie sich? Arm? Elend? Fühlen Sie sich nicht arm und elend?
    Ja.
    Also frierend, arm und elend?
    Ja.
    Und warum? Gestehen Sie!
    Ich werde, wenn ich wieder bei mir selber bin …
    Moment! Sind Sie im Augenblick nicht bei sich selber?
    Nein.
    Wo denn?
    Vom Wunschdenken entführt. Gepeitscht von der Notwendigkeit.
    Also, wenn Sie wieder bei sich selber sind, was ist dann?
    Dann bin ich wieder ausgeliefert dem Blick.
    Welchem Blick?
    Ich werde, wenn ich vor Ute-Marie fliehe – und etwas anderes bleibt mir nicht übrig –, wenn ich vor ihr fliehe, erlebe ich, dass ich jeder entgegenkommenden Frau in die Augen schaue, ob sie den Ute-Marie-Blick hat.
    Was ist das für ein Blick?
    Dieser Blick ist eine Offenbarung. Eine Dringlichkeit ohne Angebot. Eine Stärke, fähig zur Schwäche.
    Und wenn dieser Blick einmal vorkommt?
    Dann schließ ich die Augen. Und renn ins Dunkel davon. Das muss ich hoffen.
    Aus meinem wirkungslosen Kopf stiege dann, hoffe ich, ein Stückchen Stahl und leuchtete mir heim. Abwärts, aufwärts, durch einen schwarzen Wald. Rehe entsprängen der Mulde, das Fieber fiele mit dem Leben. Ich kümmerte mich nur noch darum, ob ich korrekt gekleidet sei. Und sähe zu, möglichst wenig zu schaden. Dieses von einem Alkoholiker stammende Prinzip wäre dann mein Prinzip.
    Glauben Sie an ein Gelingen?
    Nein.
    Was also?
    Der dicke Allgäuer hat gesagt, als Ute-Marie das Blut abwischte, das an seinem Katheter herauskam: Sobald sie erschienen sei, habe ihm nichts mehr wehgetan. Statt weiter zu jammern, hat er gesagt: Sie haben eine tolle Frisur.
    Und?
    Ich habe bei jeder Visite simuliert: Ich sehe noch nichts. Immer noch nicht. Und alles, was ich sehe, sobald ich es wahrzunehmen versuche, verschwimmt. Der Professor: Versuchen Sie, nichts mehr wahrzunehmen. Vorerst. Der Professor tat so, als glaube er mir. Er hat mich durchschaut. Ute-Marie hat ihm
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