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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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ist mit den Beinen?
    Endlich kann er es riskieren, aufzustehen. Von da an nimmt seine Bewegungsmöglichkeit rasch zu. Man könnte auch sagen: rasant zu. Sobald er zurück ist in seinem Körper, fängt er an, das Zimmer in eine Bühne zu verwandeln. Als Erstes schiebt er das Sofa vor die Tür. Dann schiebt er das Bett zu den Fenstern hin. So entsteht Raum. Das geschieht nicht hektisch oder panisch, sondern ruhig, überlegt. Er weiß, was er will. Es ist ja Tag jetzt. Das kann er nicht brauchen. Er zieht die Vorhänge zu und macht Licht. Sein Tisch steht jetzt mitten in dem Raum zwischen dem Bett und dem Sofa. Die zwei Sessel und die zwei Stühle werden zu Seitenbegrenzungen. Er geht um den Tisch herum, prüft, wo er das Publikum sehen wird, vor dem er spielen will. Dass er jetzt spielen will, weiß er. Es ist eine Selbstrettungs-Aktion. Jetzt untätig zu sein, das hält er nicht aus. Sobald er genau sieht, wo das Publikum sitzt, geht er um den Tisch herum, sodass der zwischen ihm und dem Publikum ist. Er fängt an zu sprechen, aber es ist nicht sicher, ob er für sich, zu sich spricht oder ob er schon Publikum annimmt.
    Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.
    Und sagt das gleich noch mal. Sagt es ohne Betonung. Sagt es so, wie man etwas sagt, dessen man absolut sicher ist. Man muss niemanden mehr von dem, was man da sagt, überzeugen.
    Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.
    Er hat angefangen, um den runden Tisch herumzugehen. Als er wieder da steht, wo er den Tisch zwischen sich und dem Publikum hat, bleibt er stehen. Er holt aus der Nachttisch-Schublade die Pistole und legt sie auf den Tisch. Dann holt er aus dem Schrank die eierschalenfarbene Jacke mit dem dunklen Kragen, die er immer anzog, wenn Lydia kam. Die hängt er über eine Stuhllehne. Und den Hut holt er auch. Den legt er neben die Pistole.
    Wenn man von mehreren Unglücken getroffen wird, muss man sich darauf konzentrieren, sie nicht zusammenfließen zu lassen. Das wäre keine Addition, sondern eine Multiplikation.
    Wenn es einen Schiedsrichter gäbe, der alles genau bemisst, müsste ich jetzt als besiegt gelten. Wahrscheinlich ist die Leere, die ich jetzt spüre, das Beste, was es überhaupt gibt. Von aller Rücksicht frei. Das erst ist frei.
    Frei. Und der Blutgeschmack im Mund.
    Es geht mir jetzt so, wie es denen gegangen ist, die sich auf mich verlassen haben. Aber ich klage nicht. Ich klage an.
    Er geht jetzt immer schneller um den Tisch herum, während er immer schneller spricht. Das wirkt nicht gehetzt, aber sehr dringlich. Er kann, was er sagen muss, gar nicht schnell genug sagen. Und weil er so schnell, aber gar nicht gehetzt spricht, wirkt er, natürlich, auch auf sich selbst, sehr überzeugend. Dieser Text steht fest. Der muss nur noch gesagt werden. Endlich einmal. Und er ist es, der ihn sagen muss.
    Ich klage an vor dem Gerichtshof der Liebe. Erster und einziger Anklagepunkt: Herrschsucht. Ihr, Dr. Gerda und Ute-Marie, ihr seid, so verschieden ihr sein mögt, ein Herz und eine Seele. Wenn es um den Mann geht. Ihr verlangt seine Unterwerfung. Immer nur dir, Gerda, immer nur dir, Ute-Marie, soll er dienen. Ich, Gerda, ich, Ute-Marie, bin deine Herrin, deine Göttin, du sollst außer mir keine Herrin, keine Göttin haben. Das ist euer Ein und Alles. Herrschen. Und dieses Herrschen nennt ihr Liebe. Ich widersage euch ein für alle Mal. In der Zukunft beherrsche ich mich selbst. Für euch verlange ich von mir Verachtung. Im Namen der Liebe. Weil ihr schuldig seid der Fälschung der Liebe zur Herrschsucht, die ihr verkündet als Liebe. Und nichts ist Liebe weniger als Herrschsucht. Nämlich das Gegenteil. Ihr versprecht dem Mann den Himmel, wenn er sich euch unterwirft. Und ihr überzieht ihn mit der Hölle, wenn er sich euch nicht bedingungslos unterwirft. Alles oder nichts ist euer Gesetz. Ich wähle: nichts. Ich weiß, wie ich mich damit strafe. Aber wenn ich wählen muss, entweder von euch gestraft zu werden oder von mir selbst, dann wähle ich die Selbstbestrafung. Ihr seid an Unnachsichtigkeit nicht zu übertreffen. Ich hoffe, dass ich mit mir gnädiger verfahre, als ihr mit mir verfahren seid. Ich bin wahrscheinlich lächerlich. Ihr seid unmenschlich. Und ihr seid böse. Denn ihr habt die Macht. Und Macht macht böse. Noch kassiert ihr täglich die Unterwerfung. Ohne die lasst ihr keinen in euch hinein. Auch ich fühle mich ausgeliefert dem, was ihr zwischen den Beinen habt.
    Diese senkrecht stehende
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