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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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Fotos gemacht. Der Parkplatz wurde auf Reifenspuren und andere Hinweise untersucht. Mit Puder suchte man die Beifahrerseite von Trudys Wagen nach Fingerabdrücken ab, obgleich Rhonda darauf hingewiesen hatte, dass die Hände des Täters bedeckt gewesen waren. Der Hase hatte schließlich weiße Pelzpfoten gehabt.
    Crowley ließ den goldenen Volkswagen und Ernie Florucci zur Fahndung ausschreiben. Er gab einen AMBE R-Alarm heraus, sodass in kürzester Zeit über verschiedenste Kanäle und Medien eine Vermisstenmeldung verbreitet und die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen wurde. Dann befahl er dem größeren der beiden Ermittlungsbeamten, die als Erste am Tatort gewesen waren, mit Trudy nachHause zu fahren. Er gab ihm Anweisung, dort die Hasenzeichnungen des Mädchens und ein möglichst neues Foto von Ernestine zu holen. Der Polizist half Trudy aus dem kaputten Stuhl und reichte ihr freundlich die Lotterielose, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte.
    «Die dürfen Sie nicht vergessen», sagte er mit einem Augenzwinkern. «Ich hab so das Gefühl, dass das richtige Glückslose sind.»
    Trudy lächelte halbherzig, steckte die Lose in die Tasche ihrer Jeansjacke und ließ sich von dem Polizisten, der ihr den Arm um die Taille gelegt hatte und sie stützte, zu ihrem Wagen führen.
    Sergeant Crowley strahlte eine Autorität aus, die Rhonda beruhigte und ihr Hoffnung gab. Falls überhaupt irgendjemand das kleine Mädchen und den Hasen finden konnte, dann Crowley. Er war Mitte vierzig – also im Alter von Rhondas Vater – und hatte sehr kurz geschnittenes, graumeliertes Haar. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und einen grünen Schlips mit einer goldenen Krawattenspange. Rhonda kam er wie ein Mann vor, der einmal körperlich glänzend in Form gewesen war, etwa wie ein Ex-Profisportler, der sich eine bleibende Knieverletzung zugezogen und seitdem ein bisschen Gewicht zugelegt hatte.
    «Miss Farr, können Sie mir sonst noch etwas über den Hasen sagen? Fällt Ihnen noch irgendetwas ein?»
    «Nein.» Rhonda schüttelte den Kopf. Mehr fiel ihr wirklich nicht mehr ein. Zumindest nicht zu
diesem
Hasen. Doch einmal, vor langer Zeit, hatte es einen
anderen
weißen Hasen gegeben, und auch der war ihr dann einfach irgendwie davongehoppelt.

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    11.   April 1993
    Im Wald lag Schnee. In ihren feinen gelben Osterschuhen wurden Rhondas Knöchel von der Kälte gefühllos, und sie rutschte immer wieder aus. Lizzy rannte neben ihr. Sie hielten sich bei den Händen. Jedes Mal wenn sie hinfielen, lachten sie los. Lizzy trug genau die gleichen gelben Schuhe wie Rhonda, mit blassen Satinschleifen: Sie hatte Rhondas Schuhe gesehen und so lange gebettelt, bis ihre Mutter mit ihr zur Mall gefahren war und das gleiche Paar gekauft hatte. So war das mit den beiden Mädchen: Was die eine hatte, wollte auch die andere unbedingt haben.
    Lizzy und Rhonda erzählten jedem in der Schule, sie seien eigentlich Zwillingsschwestern, die sich nur als Cousinen ausgäben; dabei waren sie in Wirklichkeit nicht einmal verwandt. Aber die anderen Kinder nahmen ihnen die Zwillingsschwesterngeschichte trotzdem ab. Diese Lüge war auch leicht zu glauben, weil die beiden sich so ähnlich sahen: Beide waren stämmig und hatten glattes dunkles, strubbeliges Haar, schmutzige Nägel und vorstehende Schneidezähne, weil sie zu lang am Daumen gelutscht hatten. Es waren stille Mädchen mit großen braunen Augen. Augen wie die von Koalabären oder Lemuren, Augen, die ihre einfachen Gesichtchen gänzlich auszufüllen schienen.
    Die beiden waren schon beste Freundinnen gewesen, als sie noch nicht einmal sprechen konnten – sie hatten zusammen im Sandkasten gespielt, und die Mütter waren mit den Mädchen, die in den gleichen rosa Sportwagensaßen, zum See spaziert. Als sie dann sprechen lernten, hatten sie wohl, der Schilderung ihrer Mütter zufolge, eine Zeit lang eine eigene Geheimsprache entwickelt – einen Code, den sonst keiner verstand und der aus Wörtern wie «daloor», «ub», «ta» und «skoe» bestand. Ihre Eltern machten sich Sorgen, dass die Mädchen immer weiter in dieser Weise miteinander sprechen würden, weil sie den Rest der Welt und Wörter wie «Katze», «Schwimmen» oder «Danke» nicht brauchten.
    Manchmal ging das Rhonda durch den Kopf, wenn sie Lizzy ansah – dass sie früher einmal nur einander gebraucht hatten und sonst nichts weiter.
    Sie waren mit zwei Tagen Abstand zur Welt gekommen, so viel stimmte immerhin, und nur die
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