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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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Jim schraubte den Tankdeckel auf, griff nach dem Zapfhahn für Normalbenzin – er machte sich nicht einmal die Mühe, Rhonda nach der Benzinsorte zu fragen – und begann, den Wagen aufzutanken.
    «Ist Peter da?», fragte Rhonda, bemüht, nicht allzu hoffnungsvoll zu klingen, während sie angestrengt in die Werkstatt spähte.
    «Hat sich heute freigenommen», antwortete Jim, und das versetzte Rhondas Herz einen Stich.
    Du Dummkopf
, schalt sie sich.
Was bist du blöd.
    «Ich bin ganz allein hier», sagte Jim, ein wenig Bitterkeit in der Stimme. Er kratzte sich am Ohrläppchen. Das Insekt war also schneller gewesen – wahrscheinlich eine Kriebelmücke. In diesem Jahr waren die Kriebelmücken die reinste Plage.
    Pat war beim Friseur, wie Rhonda später erfahren sollte, und deswegen ließ Jim den Einfüllstutzen im Tank stecken und eilte in den Laden, als Trudy Florucci mit ihrem verrosteten Chevrolet Corsica vor den Eiswürfelmaschinen hielt. Normalerweise stand Pat an der Kasse; überhaupt führte sie den ganzen Betrieb: Sie machte die Buchführung, lieferte Ware aus und fragte nach dem Ausweis, wenn Schüler Bier kaufen wollten – eine ihrer Lieblingsaufgaben. Dagegen gefiel es ihr ganz und gar nicht, wenn ein neuer Lieferwagenfahrer oder Verkäufer sich mit Fragen, Bitten oder Verkaufsofferten sofort an Jim wandte, weil er automatisch davon ausging, dass der Mann der Chef war. Manche nannten ihn dann sogar Pat. Pat trug darum ein Namensschildchen, auf dem stand: PAT, TANKSTELLENBESITZERIN UNDGESCHÄFTSFÜHRERIN. An jenem Tag aber war sie nicht in ihrem Geschäft, sondern im
Hair Today
, denn dort wurde ihr alle drei Monate eine Dauerwelle gemacht.
    Trudy ließ den Motor laufen und dachte dabei, dass sie ja nicht lange weg sein würde und ihr Töchterchen in der Zwischenzeit Radio hören konnte. Die kleine Ernie Florucci saß angeschnallt auf der Rückbank mit dem verblassten, fleckigen und von Brandflecken übersäten Polster. Trudy hatte ihre Tochter gerade von der Schule abgeholt. Ernie trug ein rotes Kordkleidchen, und ihr braunes Haar war zu Zöpfen geflochten, die von passenden roten Haargummis gehalten wurden. Ernie ging in die zweite Klasse. In die
zweite Klasse
, dachte Rhonda später und versuchte sich zu erinnern, wie sie selbst sich in diesem Alter gefühlt hatte. Wie verletzlich sie war, klein und verloren.
    Trudy hatte das Radio so laut gestellt, dass Rhonda es sogar in ihrem Wagen hörte. Es kam Countrymusic, und da Rhonda sich so etwas niemals anhörte, auch wenn dieser Musikstil immer mehr Radiosender zu erobern schien, erkannte sie den Song nicht. Vielleicht ging es um Liebe und ein gebrochenes Herz   …
Das ist doch eigentlich immer so
, dachte Rhonda später.
    Die Musik lenkte Rhonda etwas ab. Nervös dachte sie darüber nach, was für Fragen man ihr bei dem Vorstellungsgespräch wohl stellen würde und was sie darauf antworten sollte. Die letzten zwei Tage hatte sie ihr Wissen über Zebramuscheln aufgefrischt, um einen intelligenten und fachkundigen Eindruck zu hinterlassen. Ihre potenziellen Arbeitgeber sollten wissen, dass sie der angebotenen Stelle genug Interesse entgegenbrachte, um die Hausaufgabenzu machen. Sie ging gerade noch einmal die Fakten im Kopf durch, dachte an das Zerstörungswerk, das diese eingeschleppte Art in aller Stille bewirkte, und rief sich die kürzlich betrachteten Fotos der von Zebramuscheln überwucherten größeren einheimischen Arten in Erinnerung – als unmittelbar neben Trudys Corsica ein dritter Wagen auf dem Parkplatz hielt.
    Es war ein golden lackierter VW Käfer, und Rhondas erster Gedanke war:
Mist, Laura Lee Clark.
Tacks Mutter. Rhonda senkte den Kopf und tat so, als studierte sie die Senderanzeige ihres Radios. Sie hatte keine Lust auf ein Schwätzchen mit Laura Lee, die mit Sicherheit das Gespräch auf Peter und Tack bringen würde
(was für ein glückliches Paar
, sagte sie gerne), um als Nächstes von Suzys jüngsten brillanten Taten zu erzählen
(ein Genie
, wiederholte Laura Lee beharrlich,
meine Enkeltochter ist ein Genie).
Rhonda hielt den Kopf gesenkt, doch sie blickte dabei weit genug nach oben, um zu sehen, dass der Fahrer die Tür öffnete und ausstieg. Erst in diesem Augenblick merkte sie, dass der Wagen gar nicht von der verrückten alten Laura Lee Clark gefahren wurde, sondern von einem großen weißen Hasen.
    «Sie meinen, jemand in einem Hasenkostüm?», fragte einer der Kriminalbeamten sie später. «So wie jemand, der den Osterhasen
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