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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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weil sie mit dem allerletzten Tropfen fuhr. Außerdem hoffte sie, Peter zu sehen. Rhonda hatte sich das Tanken am Wochenende verkniffen, um es heute nachzuholen, denn sie wusste, dass Peter in der Werkstatt arbeitete.
    Wenn sie vor dem Vorstellungsgespräch noch kurz bei ihm hereinschaute, war das wie eine kleine Starthilfe, selbst wenn er nicht mehr sagen würde als:
He, wie geht’s, Ronnie?
Bei ihm zu Hause besuchte sie ihn nicht gerne, weil sie dann Small Talk mit Tack machen und sich einen Vorwand ausdenken musste, warum sie überhaupt vorbeischaute. Aber wirklich weh tat es ihr, wenn dann Suzy nach draußen kam und um sie herumhüpfte – denn die niedliche Kleine rief Rhonda ständig in Erinnerung, wie hoffnungslos ihre Lage war.
    Es war ein wunderschöner Frühsommertag Anfang Juni und draußen etwas über zwanzig Grad. Rhonda fuhr mit geöffneten Fenstern und atmete den Duft von frischgemähtem Gras und des gerade aufgeblühten Flieders in den Gärten ein. Die Campingplätze im Umkreis des Nickel Lake waren seit Ende Mai geöffnet, und Rhonda roch den Rauch der Lagerfeuer. Vor
Pat’s Mini Mart
hing knallbuntes, aufblasbares Wasserspielzeug: Meeresungeheuer, Schwimmreifen, ein kleines gelbes Floß und ein grinsendesKrokodil mit Griffen und Becherhaltern. Darunter waren überteuerte Feuerholzbündel für die Campinggäste gestapelt. Links von der Eingangstür standen zwei Eiswürfelmaschinen, und ein Schild im Schaufenster versprach kaltes Bier, Campingzubehör und Regenwürmer. Der Sommer war da. Und Rhonda fühlte sich in ihrer gebügelten weißen Bluse und dem beigen Hosenanzug fehl am Platz. Sehnsüchtig betrachtete sie das Krokodil.
    Bei dem Vorstellungsgespräch, zu dem sie wahrscheinlich verspätet eintreffen würde, ging es noch nicht einmal um eine Stelle, die sie wirklich haben wollte. Doch der Job fiel in ihr Studiengebiet – vor zwei Wochen hatte sie ihren Bachelor in Biologie gemacht   –, und würde sich im Lebenslauf gut machen. Die University of Vermont suchte eine Forschungsassistentin für eine Studie über Zebramuscheln – aus Übersee eingeschleppte Weichtiere, die wild entschlossen waren, den Lake Champlain zu erobern. Sie setzten sich auf Wasserrohren und den am Seeboden liegenden Schiffswracks fest und verdrängten die einheimische Fauna.
    Die Zapfsäulen vor
Pat’s Mini Mart
waren die einzige Tankgelegenheit in Pike’s Crossing. Außerdem lag der Laden in der Nähe des Nickel Lake, sodass viele Camper und Sommergäste hier vorbeikamen. Es ging auch das Gerücht, nirgends hätte man mehr Glück mit Lotterielosen als bei Pat. Vor zwei Wochen hatte hier jemand den Jackpot geknackt – zweihundertfünfzigtausend Dollar   –, und kurz davor hatte schon einmal jemand fünftausend Dollar gewonnen.
    Später erst erfuhr Rhonda, dass Lotterielose auch der Grund waren, weshalb Trudy Florucci an jenem Tag bei
Pat’s Mini Mart
haltmachte. In der Tasche ihrer gebleichten Jeansjacke hatte Trudy ihre Glückszahlen und außerdem genug Geld für vier Lose und eine Packung Mentholzigaretten – freilich nur für das No-Name-Produkt. Es war billiger als die gängigen Marken wie etwa Kool, die sie geraucht hatte, als ihr Mann noch lebte und sie sich diesen Luxus leisten konnte. All das erzählte sie später einem der Ermittlungsbeamten, und Rhonda krümmte sich innerlich, als Trudy all diese schmerzlichen kleinen Details in diesem unerträglichen Moment vor einem vollkommen Fremden ausbreitete. Als hätte Trudy sich mit den Fingern die Lippen aufgehalten und dem Bullen ein eiterndes Krebsgeschwür im Mund gezeigt.
     
    Tankwart der Vollservice-Tankstelle war Pats Mann Jim. Aber «Vollservice» war eigentlich eine ganz schön hochgegriffene Bezeichnung, dachte Rhonda. Jim wusch niemals die Windschutzscheibe, und wenn man ihn bat, den Ölstand zu kontrollieren, dann brummte er böse und polterte so heftig unter der Motorhaube herum, dass man diese Bitte kein zweites Mal äußerte. An jenem Tag wirkte Jim, der hager wie ein Skelett und geradezu erschreckend hoch aufgeschossen war, besonders gelangweilt, als er in seinem blauen Overall nach draußen geschlendert kam. Das dunkle Haar war an den Kopf geklatscht und sein Gesicht seit Tagen unrasiert.
    «Volltanken?», fragte er und starrte dabei einfach über das Wagendach hinweg. Er schlug nach einem Insekt auf seinem linken Ohr.
    Rhonda nickte aus dem offenen Fenster ihres blauenHondas zu ihm hoch. Sie lächelte, aber das schien er nicht wahrzunehmen.
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