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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle
Autoren: Brigitte Riebe
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schon beziehen konnte, wenn man nur falsch guckte. Das viele Beten störte sie. Das eintönige Korbflechten. Vor allem aber, dass man in dem baufälligen Haus wie im Gefängnis eingeschlossen war.
    Noch besser als reden konnte Toni singen. Er musste eine Melodie nur ein einziges Mal hören, um sie nachzupfeifen oder auswendig vor sich hinzuträllern, und manchmal tat er das den ganzen Tag. Anderen wurde sein ständiges Singen und Summen schnell zu viel, die Nonnen aber, die für die Kinder sorgten, hatten einen Narren an ihm gefressen. Ihre Augen wurden feucht, sobald Tonis klarer Knabensopran sich im dämmrigen Kirchenschiff in die Höhe schwang, aber mehr als einen Apfel zusätzlich oder einen Teller Grütze ab und zu war es ihnen trotzdem nicht wert.
    Die Flucht war einfach, doch als sie draußen waren, erging es ihnen schlecht. Das Frühjahr war kalt und regnerisch, sie litten Hunger, und dann zog sich Kaspar bei einem Sturz auch noch die Wunde am Zeh zu, die nicht heilen wollte. Er aß nichts mehr, fieberte, redete wirres Zeug und wäre vielleicht sogar gestorben – hätte es nicht Kuni gegeben.
    Kuni mit dem frechen Mundwerk, die plötzlich vor ihnen stand wie eine Erscheinung. Mit den klapperdürren Beinen und ihren zerzausten spatzenbraunen Haaren, die immer aussahen wie ein halb aufgelöstes Mäusenest.
    Kuni, die auf alles eine Antwort wusste.
    »Wir müssen es ausbrennen«, sagte sie, nachdem sie den Fuß gründlich untersucht hatte. »Oder wegschneiden. So bleiben kann es keinesfalls.«
    »Woher weißt du das?«, fragte Lenz.
    »Weil ich es eben weiß«, war die schnippische Antwort.
    Da Lenz mit dieser Auskunft nicht zufrieden schien, beschloss sie, ihm etwas entgegenzukommen.
    »Das hab ich mir von einem alten Bader abgeschaut«, erklärte sie.
    Er gefiel ihr, mit seinen warmen braunen Augen und dem abgeschlagenen Vorderzahn, der ihm etwas Vorwitziges gab. Sehr sogar. Aber das brauchte er nicht zu wissen. Es war nicht klug, Männern zu zeigen, dass man sie mochte. Das hatte sie in ihrem kurzen Leben bereits gelernt.
    »Und der kannte sich aus«, fuhr sie fort. »Ich bin eine Zeit lang mit ihm in der Gegend herumgezogen. Wir haben die Leute ausgenommen und manchmal sogar den Schweden ein Schnippchen geschlagen. War keine schlechte Zeit, alles in allem. So lange eben, bis sich was Besseres ergeben hat.« Sie war so schmutzig und zerlumpt, dass es nicht besonders glaubhaft klang. Aber die Angst um Kaspar ließ Lenz keine Wahl. Er klammerte sich an jede Hoffnung.
    »Du wirst ihm doch nicht wehtun?«, sagte er. »Er weint, wenn es wehtut. Und dann muss ich auch weinen.«
    »Das wird sich nicht vermeiden lassen. Aber ich weiß, was dagegen hilft. Habt ihr Branntwein?«
    Lenz und Toni schüttelten den Kopf.
    Sie zog einen kleinen Krug aus ihrem zerschlissenen Beutel, hob Kaspar leicht in die Höhe und setzte ihn an seinen Mund. Er hustete, als er das scharfe Zeug schmeckte, versuchte, sich zu wehren.
    Das Mädchen war stärker als er.
    »Trink«, sagte Kuni. »Sonst stirbst du.«
    Irgendwann fiel Kaspars Kopf zur Seite. Sie nahm ihr Messer, zögerte aber plötzlich.
    »Wir bleiben ab jetzt zusammen«, sagte sie. »Für immer. Das ist meine Bedingung. Sonst krümme ich keinen Finger. Seid ihr einverstanden?«
    Lenz und Toni nickten.
    »Dann schwört – bei eurem Leben!«
    »Ich schwöre.«
    »Ich auch.« Die Jungenstimmen klangen dünn in dem Kellergewölbe.
    Kuni nickte, dann kniff sie die Augen zusammen, setzte das Messer an und schnitt.
    Kein Wunder, dass Kaspar seitdem in abgöttischer Liebe an ihr hing. Es machte ihm nichts aus, dass seitdem an seinem zweiten Zeh das oberste Glied verkrümmt war. Beim Laufen störte es ebenso wenig wie beim Klettern, und wenn er seinen linken Fuß nur weit genug vorstreckte, fiel das Almosen häufig sogar größer aus.
    Am großzügigsten zeigten sich die Jakobspilger, die sich mit ihren Pelerinen, Stöcken und den Krempenhüten vor dem Portal von St. Jakob zum Weiterwandern sammelten, nachdem sie in der alten Säulenbasilika die Frühmesse besucht hatten. Die meisten von ihnen hatten selber nicht viel. Aber ihm gaben sie trotzdem etwas, Brot, ein Stück Wurst, manchmal sogar ein paar Kupfermünzen. Kaspar passte sie ab und war stolz, wenn Kuni ihn dafür lobte. Überhaupt war alles in Ordnung, solange Kuni guter Laune war.
    An diesem Tag jedoch war nichts, wie es sein sollte. Der Hagel hatte sie aufgestört; sie hatten umziehen müssen, mitten in der Nacht, und waren
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