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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle
Autoren: Brigitte Riebe
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durchnässt und frierend herumgelaufen, bis sie endlich einen halbwegs trockenen Unterschlupf gefunden hatten. Aber auch dann war an Schlaf nicht mehr zu denken.
    »Ich hab Hunger«, jammerte Lenchen. In ihren dunklen Augen standen Tränen. »Und Angst. Wo ist Ava? Ich will zur Otterfrau!«
    »Morgen«, vertröstete sie Kuni. »Es ist zu kalt, um mitten in der Nacht durch die ganze Stadt zu rennen.«
    Manchmal wäre sie das kleine Mädchen am liebsten wieder losgeworden. Lenchen machte die Bande langsamer und damit auch angreifbarer, zwang sie zu Kompromissen, die sie sonst vermieden hätten. Und sie weinte dauernd, entschieden zu viel für ihren Geschmack. Kuni hätte sie anschreien mögen und schütteln, damit sie endlich damit aufhörte. Wozu das Geplärre?
    Die Dinge waren nun mal, wie sie waren. Daran musste man sich rechtzeitig gewöhnen. Sie selber war kaum älter gewesen, als sie lernen musste, auf der Straße zu überleben.
    Andererseits brachte sie es nicht über sich, Lenchen wegzuschicken. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Ihre Mutter war tot, einen Vater hatte sie niemals gekannt. Kuni und die Jungen waren alles, was sie hatte.
    Kuni wirkte angespannt. Sie war blass, zerstreut, fahrig. Wie dunkle Sprenkel hoben die Sommersprossen sich von ihrem fahlen Gesicht ab. Sie kaute auf einem Halm, den sie immer wieder von einer in die andere Backe schob.
    »Du willst also neue Sitten einführen?«, sagte sie langsam. »Hast du dir das auch gut überlegt?«
    Tonis Mund wurde schmal, und Kaspar duckte sich vorsichtshalber, Lenz aber ließ sich nicht einschüchtern.
    »Ich habe lediglich gesagt, dass wir beim Wochenmarkt nach Arbeit fragen sollten«, sagte er. »Wenn wir beim Zusammenräumen helfen, könnten wir …«
    »Siehst du nicht, wie müde sie sind?« Kunis Kinn wies auf die beiden Jungen, dann auf Lenchen. »Die können sich kaum noch auf den Beinen halten. Kisten schleppen – das kannst du vergessen!«
    »Dann machen eben wir es, du und ich«, sagte er mutig. »Und teilen mit den Kleinen, was wir bekommen.«
    »Wir bleiben zusammen«, beharrte sie. »So war es vereinbart, falls du dich daran noch erinnerst. Das gilt für alle. Also auch für dich.«
    »Sie könnten am Fischbrunnen auf uns warten«, sagte Lenz. »Vielleicht hat Toni Lust, ein bisschen zu singen? Wir holen sie dann später ab.«
    »Bei dem Wetter? Vergiss es!«
    »Ich weiß gar nicht, warum du heute so feindselig bist.«
    Er war näher gekommen, so nah, dass ihre Hände sich fast berührten. Lenz war seit dem Winter ein Stück größer als sie, und dass er nun schräg auf sie herunterschauen konnte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Ein Bild drängte sich in ihren Kopf, und obwohl Kuni es schnell wegschob, hinterließ es doch Spuren auf ihren Wangen.
    Sie spie den Halm aus und zertrat ihn.
    »Dann denk mal ganz genau nach! Ich weiß nämlich zufällig, was du heute Morgen gemacht hast. Als wir so lange auf dich warten mussten. Und du angeblich mit Milch für die Kleinen zurückkommen wolltest. Ich hab dich gesehen. Dich und deine Taube.« Ihre Stimme wurde höher. »Du kannst dich nicht unsichtbar machen. Auch wenn du es dir vielleicht einbildest.«
    »Ach, das meinst du!« Er grinste. »Wir haben nur ganz kurz miteinander gesprochen. Der Donner hat sie geweckt. Wie uns auch. Und später …«
    »Ach, dann kann sie jetzt auf einmal wieder hören und muss nicht mehr auf ihrer blöden Tafel rumschmieren?«
    Kuni hasste es, dass sie nicht lesen konnte. Lenz hatte versprochen, es ihr beizubringen, aber bislang immer eine Ausrede gefunden, es nicht zu tun.
    Er packte ihren Arm und zwang sie, ihn anzusehen.
    »Sie ist nicht weniger wert als du, nur weil ihre Ohren nichts mehr taugen«, sagte er. »Selina hat gesagt, dass sie den Donner in ihrem Körper gespürt hat. Und ich glaube ihr. Außerdem geht es dich gar nichts an, mit wem ich rede. Und worüber.«
    Der Ernst in seinen Augen machte sie befangen. Und nur noch wütender.
    »Selina, deine kleine, zuckersüße Selina! Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, dass sie hässlich ist wie ein Sack Kröten? Wärst du nicht so verblendet, würdest du es selber sehen. Und wenn sie den Mund aufmacht, dann klingt es, als würde jemand sägen.« Herausfordernd sah Kuni zu Toni und Kaspar, aber niemand lachte, nicht einmal Kaspar.
    »Wir sollten jetzt gehen«, sagte Lenz schließlich. »Sonst werden wir gar nichts mehr bekommen.«
    »Dich treibt wohl die Sehnsucht, was?« Kuni hätte sich auf die
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