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Letzte Nacht

Letzte Nacht

Titel: Letzte Nacht
Autoren: Stewart O'Nan
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Geschäftszeiten

    Ein grauer Wintertag, der Verkehr am Einkaufszentrum ist zum Erliegen gekommen. Später Vormittag, aber die schwach leuchtenden Straßenlaternen brennen noch. Vereinzelte Schneeflocken schweben herab wie Asche, doch die Straßen sind im Moment größtenteils trocken. Die Feiertage stehen bevor – am Kühlergrill eines Müllautos, das an der Ampel hält, ist mit Draht ein großer Kranz befestigt, rote Samtschleife inklusive. Auf der Abbiegespur warten sie darauf, dass der Pfeil über der Straße auf Grün springt, dann setzt sich eine Kolonne salzverkrusteter Fahrzeuge in Bewegung und biegt nach links in die Einfahrt des Einkaufszentrums, wo sich ihre Wege trennen und jeder sich auf die Suche nach einer Parklücke macht.
    Ein einzelner Wagen gleitet allein über die Weite des Parkplatzes, vorbei an einem zusammengeschobenen Schneehaufen, der aufragt wie ein schmutziger Eisberg.
    Ein schrottreifer weißer Buick, wie man ihn vielleicht von einer Großmutter erben würde, an der Fahrertür fehlt ein Stück Zierleiste. Der Regal bleibt auf der markierten Spur ganz am äußersten Rand, hält am Stoppschild, obwohl es hier draußen bloß freie Parkflächen gibt, und schließlich das Fahrtziel des Wagens, weit hinten in einer Ecke gelegen, als wäre dort der Angelpunkt des gesamten Parkplatzes, ein dunkler Holzrahmenbau mit eigener Parkfläche und unbeleuchtetem, dem Highway zugewandten Neonschild – ein Red Lobster.
    Der Regal blinkt überflüssigerweise und gleitet auf den Parkplatz wie ein Ozeandampfer, der endlich den Hafen erreicht, vorbei an den Behindertenparkplätzen zu beiden Seiten des Wegs, der zum Eingang führt, er bremst, biegt dann ab und verschwindet hinter dem Gebäude, nur um ein paar Sekunden später ganz hinten auf der anderen Seite wieder aufzutauchen und neben einem umzäunten Müllcontainer zu halten, als wollte sich der Fahrer verstecken.
    Einen Augenblick steht der Wagen mit ausgeschalteter Zündung da, Schnee rieselt auf Dach und Heckfenster, und die beheizte Scheibe scheint jedes auftreffende Schneekristall aufzusaugen. Im Wageninnern, eingerahmt von den Schalensitzen, baumelt am Rückspiegel eine goldbefranste puertoricanische Flagge. Der Fahrer beugt sich zu einer Flamme hinab, drückt den Kopf wie ein Astronaut gegen die Kopfstütze und stößt Rauch aus.
    Nochmal, und dann ein weiteres Mal, und der Rauch schwebt derweil in einer Wolke über dem Rücksitz.
    Der Blick des Mannes schnellt ängstlich zum Rückspiegel. Es ist noch zu früh, und außerdem ist er zu alt, um sich zu bekiffen – gut und gern fünfunddreißig, Doppelkinn, kakaobraune Haut, borstiger Ziegenbart und Koteletten –, aber vielleicht liegt es auch bloß an seiner Krawatte, dass er so seltsam aussieht, als er das Feuerzeug an den stählernen Pfeifenkopf führt. Er könnte Börsenmakler sein oder ein Verkäufer bei Circuit City, der gerade Kaffeepause macht, doch das Namensschild, das aus der offenen Lederjacke hervorlugt, zeigt einen garnierten Hummer über seinem Namen: MANNY. Auf seinem Schoß liegt, schwer wie ein Vorhängeschloss, ein an der Gürtelschlaufe befestigter dicker Schlüsselbund.
    Wenn jemand hier etwas zu suchen hat, dann Manny DeLeon. Als Geschäftsführer ist er dafür zuständig den Laden aufzusperren, eine Aufgabe, die ihm mittlerweile Spaß macht. Obwohl Red Lobster keine Lizenzen vergibt, betrachtet er die Filiale als sein Eigentum – zumindest tat er das, bis er den Brief von der Zentrale bekam.
    Er ging davon aus, dass sie wegen Renovierungsarbeiten schließen würden, wie die Filiale in Newington, dass die dunkel lackierten Nischen und das Küstendekor‐Imitat ersetzt würden durch einen offenen Grundriss und zarte blaugrüne Pastelltöne, den Coastal Home‐Stil, der auf der Webseite des Unternehmens verheißen wurde. Mit ihren Fachwerkdecken, dem eingedrückten Fiberglasschwertfisch und den mit Schellack überzogenen Treibholzschildern für die Toiletten waren sie längst überfällig.
    Stattdessen bedauerte die Zentrale, ihm mitteilen zu müssen, eine Unternehmensstudie habe ergeben, dass der Standort in New Britain die Erwartungen nicht erfülle, und deshalb mit Wirkung vom 20. Dezember endgültig geschlossen werde.
    Vor zwei Monaten hat Manny noch vierundvierzig Leute beschäftigt, zwanzig davon Vollzeit. Wenn er heute Abend die Tür abschließt, werden bis auf fünf alle ihren Job verloren haben, und einer von diesen fünfen –  ungerechterweise, denn er war ihr
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