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Die Hoehle der Traenen

Die Hoehle der Traenen

Titel: Die Hoehle der Traenen
Autoren: Pamela Freeman
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täuscht sich. Ich glaube, wenn wir gut genug sind, werden wir nicht wiedergeboren, jedenfalls nicht als Menschen. Nicht als schweres Fleisch.
    Wir sind Tiere. Deswegen fressen sie uns, weil sie wissen, was wir wirklich sind.
    Als ich zum ersten Mal eines sah, war ich drei, vielleicht vier Sommer alt. Wir waren unten am Wasserlauf, Hengi, Caela und ich, wo wir uns eigentlich gar nicht aufhalten durften. Hengi gab an, wie er es immer tat, indem er seinen Zeh in das Wasser tauchte, um zu beweisen, dass er mutiger war als die anderen.

    »Kommt und holt mich!«, schrie er. »Ich habe keine Angst vor euch!«
    Da kam es. Es schnappte nach seinem Zeh, aber er riss ihn schnell genug zurück, als es aus der grünen Tiefe schoss, und es verfehlte ihn. Unter der Wasseroberfläche hörte ich es verärgert zischen. Hengi und Caela krochen vom Ufer weg und rannten schreiend zur Hütte. Doch ich blieb und starrte es an, und es starrte mich ebenfalls an. Sie starrte. Es war ein Mädchen, daran bestand kein Zweifel.
    Die Steinedeuter sagen, es gibt Momente, in denen dein Leben seinen Lauf verändert, indem das, was du tust oder zu was du dich entscheidest, von da an alles verändert. Dies war so ein Moment für mich. Wäre ich weggelaufen, hätte ich sie nicht so deutlich gesehen.
    Ich hätte nicht gesehen, dass sie wunderschön war und jung. Kein Kind, so wie ich es noch war, aber nicht so alt wie meine Mama. Eher wie Ethelin, Caelas große Schwester. Ihre Augen waren schmal und ganz grün, ohne etwas Weißes darin. Sie funkelten wie die einer Katze. Sie sah mich an und lächelte. Lockte mich.
    Dumm war ich nicht, nicht einmal mit vier. Ich schüttelte den Kopf und stemmte die Füße fest in den Boden. Aber ich lief nicht weg. Und dann … dann fing sie an zu singen.
    Es gibt dafür keine Worte. Wenn man es nicht selbst gehört hat … Ich kann es nicht nachmachen. So könnte kein Mensch singen. Es war zu hoch für eine menschliche Stimme und gleichzeitig zu tief. Es hörte sich an, als sängen ein Dutzend Stimmen, doch es war bloß eine. Es klang wie Wasser und Lachen und Silber in der Sonne … Es sprach all jene Teile in mir an, die nicht Tier waren. Es erfüllte meine Brust mit heißem, engem Verlangen, weil es von allem sprach, das ich nie würde haben können … Geist, rein und einfach, frei von Fleisch fliegend, frei von Erde, frei von Tod.

    Damals dachte ich darüber nicht nach. Nicht mit vier Jahren. Aber ich fühlte sie. Weinte um sie. Ging in die Hocke und weinte leise, bis meine Mama und die anderen Erwachsenen angelaufen kamen, um auf das Wasser einzuschlagen und so lange zu schreien, bis sie verschwand.
    Sie sorgten dafür, dass wir danach nicht mehr in die Nähe des Wasserlaufs gingen. Manchmal schlich ich trotzdem dorthin, aber sie war nie da, selbst dann nicht, wenn ich meinen Zeh in das Wasser tunkte und schrie: »Komm doch und hol mich!«
    Ich hörte sie in meinen Träumen singen, aber zu was war das gut? Es war nicht sie, was ich wollte, es war die Freiheit, die ich aus ihrem Lied herausgehört hatte.

Saker
    Die Dunkelheit legte sich über Saker wie ein Schild. Seine Armee war irgendwo hinter ihm und musste mittlerweile mit dem Sonnenlicht verblasst sein. Die Windgeister hatten ihn neben einer alten Mühle abgesetzt und waren auf seinen Befehl hin wieder in die Luft aufgestiegen. Von daher war er nun sicher und verborgen an einer Stelle, wo niemand nach einem großen Zauberer suchen würde.
    Und dennoch … Er trank aus dem Mühlgraben, erleichterte sich an der rissigen Wand der Mühle, ging zum Speicher zurück und fragte sich, warum er sich so … einsam fühlte. So war es immer schon gewesen, seit dem Tag, an dem die Männer des Kriegsherrn seine Familie, ja sein ganzes Dorf umgebracht hatten. Selbst bei Freite, der Zauberin, die ihn ausgebildet hatte, war er einsam gewesen. Jetzt war es nicht anders.
    Aber heute hatten ihn die Geister beschützt, ihn verteidigt, sich um ihn geschart. Ohne diesen Schutz fühlte er sich verletzlich. Saker zog die Stirn in Falten. Es musste eine Möglichkeit geben, die Geister in die Lage zu versetzen, auch nach Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang noch zu verweilen. Bis jetzt war es so, dass er sie nur für einen Tag oder eine Nacht herbeirufen konnte, nicht länger. Der Sonnenaufgang oder der Sonnenuntergang zogen sie wieder zurück in den Tod, in die Dunkelheit vor der Wiedergeburt,
und wenn er sie erneut brauchte, musste er wieder von vorne anfangen, sie abermals
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