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Die Herrin des Labyrints

Die Herrin des Labyrints

Titel: Die Herrin des Labyrints
Autoren: Andrea Schacht
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kannst du mich nicht so ohne weiteres an die Luft setzen wie deinen verflossenen Ulli.«
    »Damon? Das hört sich ja fast an, als ob du ernsthafte Absichten hast! Ein Haus kaufen, einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen …«
    »Ja, ja, und das Buch schreibe ich auch noch.« Es wurde ein glücklicher Tag und eine glückliche Nacht.
    Am Montagmorgen standen wir unangekündigt in Dr. Wentz’ Notariat. Der ältliche Jurist, loyaler, wenn auch ein bisschen phantasieloser Freund und Ratgeber meiner Großmutter Gita, empfing uns dennoch. Außerdem – so phantasielos war er denn doch nicht, als dass er nicht erkannte, was da vor ihm stand.
    »Meine liebe Amanda, ich habe den Eindruck, als sollte ich Ihnen gratulieren?«
    »Tun Sie es auf alle Fälle. Zumindest einen Grund haben Sie. Ich möchte das Vermächtnis in Empfang nehmen.«
    »Sie haben das Rätsel gelöst? Wunderbar. Meinen Glückwunsch auch dazu. Und natürlich auch zu Ihrem Geburtstag.«
    »Geburtstag?«
    »Es ist heute der 31. Juli.«
    »Irgendwie scheinen mal wieder Zeit und Raum bei mir durcheinandergekommen zu sein. Aber Sie haben natürlich recht. So stand es in der Urkunde.«
    »Ja, und nun folgen Sie mir, damit wir die Formalitäten erledigen können.«
    In einem versiegelten Umschlag hatte Gita die Lösung des Rätsels hinterlegt, und als ich ihm den Namen nannte, nickte Dr. Wentz bedächtig.
    »Folgen Sie mir. Ich habe in Verwahrung, was Sie erhalten sollen. Sie, Herr Reese, müssen bedauerlicherweise hier im Büro warten.«
    Er hatte es in einem Tresorraum, in dem alte und empfindliche Dokumente lagerten. Viele Schlüssel klapperten, bis endlich das Fach geöffnet war, in dem Gita deponiert hatte, was sie von ihrer Mutter erhalten hatte. Meine Ungeduld wuchs mehr und mehr, und meine Finger wurden vor Anspannung ganz kalt. Dann stellte Dr. Wentz, dessen Gesicht ein Beispiel ungläubiger Verwirrung gab, einen alten Keramiktopf vor mich, auf dem ein loser Deckel lag. Vorsichtig hob ich ihn hoch, griff hinein und hielt – ein Glas Honig in der Hand.
    Ich begann, unbändig zu lachen. O alle Götter und Göttinnen, war das herrlich!
    »Honig?«, fragte er fassungslos.
    »Der Honig im Topf ist ihr zugedacht, die in der Mitte des Herzens erwacht.«
    »Das Rätsel? Stimmt. Aber … Oh, Gita!« Er schüttelte noch einmal den Kopf und holte dann noch etwas aus dem Fach. »Amanda, das gehört Ihnen ebenfalls.«
    Ein dicker Lederfoliant lag vor mir auf dem Tisch. Er war sehr alt. Alt war auch das Pergament, alt die vergilbten Blätter, die darin lagen. Handgeschriebene Seiten, datiert über viele Jahrhunderte. Kaum leserlich für mich, weil Schrift und Sprache mir fremd waren. Darum nahm ich mir das jüngste Blatt zuerst vor. Es war steifes Büttenpapier, dauerhaft und haltbar. Die Schrift war noch nicht ausgereift, die eines sehr jungen Menschen. Das Datum sagte, dass es auf den Tag genau 45 Jahre her war, dass der Text geschrieben wurde.
    In der Tradition meiner Vorfahrinnen berichte ich hier, was meine Ahnin vor sechshundert Jahren als erste aufgeschrieben hat:
    »Ich, Amalgundis vom Weiler, schreibe nun nieder, was in den Generationen vor mir die Mütter meiner Familie ihren Töchtern berichteten. Mich lehrten weise Frauen die Schrift, und so soll festgehalten werden für meine Tochter und die kommenden Generationen, was wahr ist, doch in der Welt nicht mehr gewusst wird.
    Tochter! Die Linie unserer Mütter reicht weit zurück in die Vergangenheit. Sie wurde begründet auf einer fernen Insel im Süden unserer Welt. Dort gibt es einen Tempel, in dem unsere Mütter als Priesterinnen dienten. Sie dienten nicht einem fernen Gott, sondern der Göttin in der Mitte des Labyrinthes. Zu ihrer Erinnerung wurde die Münze geprägt mit ihrem Bildnis und dem Symbol des gewundenen Weges, der zu ihr führt. Die Mütter lehrten uns, daß jeder, der den Windungen folgt, schließlich der Herrin des Labyrinthes begegnet und von ihr gesegnet wird. Und in jenen alten Zeiten war es üblich, ihr für diese Gnade einen Topf Honig zu opfern.
    Der Tempel wurde zerstört, die Priesterinnen vertrieben, die Göttin durfte sich nicht mehr zeigen. Doch sie blieb in unseren Herzen.
Die Mütter haben ihre äußere Macht verloren, und die Töchter dürfen den Namen ihrer Linie nicht mehr führen. Wir werden nach unseren Vätern benannt, so wie die Herren es bestimmt haben. Doch die weisen Alten wußten sich Rat. Darum heißt in unserer Familie jede Mutter ihre Tochter in der Verschwiegenheit
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