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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
Autoren: Muriel Spark
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    Vor langer Zeit – im Jahre 1945 – waren alle netten Leute in England arm, von einigen Ausnahmen abgesehen. Schlecht oder gar nicht renovierte Gebäude säumten die Straßen der Städte, Einschlaglöcher, um die Steine und Schutt sich häuften, Häuser, die wie riesige hohle Zähne wirkten, aus denen man die zerstörten Stellen herausgebohrt hatte. Einige der von Bomben zerrissenen Gebäude sahen aus wie Ruinen alter Schlösser; bei näherem Hinschauen wurden die Tapeten ganz normaler Zimmer sichtbar, Zimmer über Zimmer, die sich, da die Vorderwand fehlte, wie auf einer Bühne darboten. Manchmal pendelte die Kette eines Wasserklosetts vom vierten oder fünften Stock über dem Nichts. Die meisten Treppenhäuser hatten überlebt: sie führten immer weiter und weiter hinauf zu unbekanntem Ziel, gleichsam eine neue Kunstform, die ungewöhnliche Ansprüche an die Vorstellungskraft stellte. Alle netten Leute waren, wie gesagt, arm, zumindest wurde dies allgemein als sicher angenommen, da die Besten unter den Reichen arm an Geist waren.
    Es gab nicht den geringsten Grund, über den Anblick, der sich bot, deprimiert zu sein. Die Szene hatte nichts Niederdrückendes. Genausogut hätte man über den Grand Canyon deprimiert sein können oder über eine Erdkatastrophe, die sich menschlicher Einflußnahme entzog. Man versicherte sich weiterhin gegenseitig, wie sehr einen das Wetter deprimiere oder die Nachrichten oder auch das Albert Memorial, das von der ersten bis zur letzten Bombe weder getroffen, ja noch nicht einmal erschüttert worden war.
    Der May of Teck Club stand schräg gegenüber dem Albert Memorial in einer Reihe hoher Häuser, die zwar überstanden hatten, aber mit knapper Not. Ein paar Bomben waren in der Nachbarschaft gefallen und auch in einige der rückwärtigen Gärten. Sie hatten das Äußere der Häuser angeschlagen und ihr Inneres einigermaßen durcheinandergeschüttelt, aber sie – für die nächste Zeit jedenfalls – noch bewohnbar zurückgelassen. Die zerbrochenen Fensterscheiben waren durch neue ersetzt worden, die in ihren lockeren Rahmen schepperten. Kürzlich erst hatte man den pechschwarzen Luftschutz-Anstrich von den Fenstern des Treppenhauses und der Badezimmer entfernt. Fenster waren wichtig in diesem Jahr der letzten Abrechnung. Mit einem Blick ließ sich feststellen, ob ein Haus bewohnt war oder nicht. Im Laufe der vergangenen Jahre hatten sie sich mit Bedeutung aufgeladen – sie waren die eigentliche Gefahrenzone zwischen dem Leben hier zu Hause und dem Krieg da draußen. Immer wieder hörte und sagte man, sobald die Sirenen losheulten: «Gib acht auf die Fenster! Geh vom Fenster fort! Sieh dich vor dem Glas vor!»
    Dreimal seit 1940 hatte der May of Teck Club bei Bombenangriffen seine Fenster eingebüßt, aber niemals war er unmittelbar getroffen worden. Von eben diesen Fenstern der oberen Schlafräume aus sah man das Auf und Ab der Baumwipfel in Kensington Gardens jenseits der Straße, und auch das Albert Memorial war erkennbar, wenn man sich etwas den Hals verrenkte. Von hier aus konnte man auch auf das Pflaster der gegenüberliegenden Straßenseite, an die der Park grenzte, hinuntersehen und auf die winzigen Menschen, die sich wie gestochen einzeln oder paarweise dort entlang bewegten, kleine Kinderwagen mit Miniaturbabyköpfen und Lebensmitteln beladen vor sich herschoben oder tupfengroße Einkaufstaschen mit sich herumtrugen. Jedermann trug damals eine Einkaufstasche bei sich für den Fall, daß er das Glück haben sollte, an einem Laden vorbeizukommen, wo es unvermutet irgend etwas Nicht-Rationiertes gab. Von den Fenstern der unteren Schlafräume aus wirkten die Menschen auf der Straße größer, und man konnte die Wege im Park erkennen. Alle netten Leute waren arm und es gab nur wenige, die so nett waren – was man so unter nett versteht – wie die Mädchen in Kensington, die frühmorgens aus diesen Fenstern blickten, um zu sehen, wie der Tag sich anließ, oder die an grünen Sommerabenden träumerisch hinausschauten, so als dächten sie nach über die Monate, die vor ihnen lagen, über Liebe und Liebesbeziehungen. Von ihren Augen ging ein lebhafter, fast genialischer Glanz aus, aber es war nur das Feuer ihrer Jugend. Die erste der Hausregeln, die an einem fernen und un-schuldsvollen Tage zur Zeit Eduards VII. aufgezeichnet worden waren, ließ sich immer noch mehr oder weniger auf sie anwenden:
     
    DER MAY OF TECK CLUB SOLL MINDERBEMITTELTEN
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