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Die Herrin des Labyrints

Die Herrin des Labyrints

Titel: Die Herrin des Labyrints
Autoren: Andrea Schacht
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KAPITEL 1

    Magie
    Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der sich nichts mehr bewegte. Es ging nicht mehr vorwärts, es ging nicht mehr rückwärts, und oben und unten konnte ich auch kaum noch voneinander unterscheiden. Ich war müde, einfach müde und antriebslos, und kein Arzt hatte eine Erklärung für diesen faden Zustand. Mir fehlte etwas. Ein Funke, ein Antrieb, ein Hauch von Leidenschaft. Dazu kam auch noch, dass mich die Frage nach meiner eigentlichen Identität immer stärker bedrängte.
    Seit ich denken konnte, lauerte irgendwo in den Abgründen meines Bewusstseins dieses quälende »Wer bin ich wirklich?«. Wenn ich morgens in den Spiegel sah, dann nickte mir im kalten Neonlicht eine nüchterne Pflegerin ungeschminkt zu, die Kranken und Gebrechlichen in ihrem Leid beistand. Kam ich nach Hause, wurde ich die verständnisvolle Mutter eines heranwachsenden Genies. Abends spielte ich die gefällige Partnerin eines langweiligen Pantoffelhelden. In der Vergangenheit war ich eine pflichtbewusste, aber dennoch enttäuschende Tochter konservativer Eltern gewesen. Andere Nebenrollen spielte ich auch, manche recht gerne, andere widerwillig. Ein paar spielte ich inzwischen nicht mehr. Beispielsweise die lustvolle Rolle der ekstatischen Tänzerin und Geliebten. Die gab ich nur einmal. Dann nie wieder. Aus guten Gründen, denn sie hatte mir keinen großen Applaus, sondern nur namenlosen Schmerz und Trauer eingebracht.
    Kurz und schlecht – ich sah mich selbst in meinen unterschiedlichen farblosen Kostümen durch die verstaubten Kulissen meines Lebens streifen. Doch dahinter blieb ich nur das namenlose Kind, das sich angstvoll vor der dunklen, der entsetzlichen Frau in Schwarz versteckte, die mir meine Identität gestohlen hatte.
    Eine Freundin bemerkte schließlich meine desolate Verfassung und machte mir einen Vorschlag, der mir, milde gesagt, etwas befremdlich erschien. Sie wollte mit Hilfe irgendwelcher verborgenen Kräfte meinem Leben eine positive Wendung geben. Nicole behauptete, sie verstehe etwas von derartigen Zauberkunststücken, denn sie sei eine Hexe. Ich ließ sie also machen und lächelte im Stillen etwas über ihr naives Vertrauen in diesen Hokuspokus.
    Eines Tages berichtete sie mir schließlich, der magische Akt sei vollzogen, sie habe die alten Göttinnen angerufen, auf dass sie von nun an mein Schicksal zum Besseren lenkten. Die Göttinnen hingegen schienen nicht geneigt zu sein, sich Nicoles Anweisungen zu fügen, denn es geschah nichts.
    Dachte ich, aber dann begannen die Dinge in Schwung zu kommen.
    Aber ich will nacheinander berichten, auf welche Weise die Beherrscherinnen der Nacht in mein Leben eingriffen. Wie sie an den Biegungen des verschlungenen Weges auf mich lauerten und wie sie mich in dem seltsamen Labyrinth begleiteten, durch das ich mich hindurchwinden musste. Bis ich dort in der Mitte den Honigtopf fand. Buchstäblich und auch in vielerlei anderer Bedeutung.
KAPITEL 2

    Der Tod der alten Dame
    Es war kurz nach zwei Uhr nachts, als mich das Telefonklingeln weckte. Schlaftrunken meldete ich mich, wurde aber sofort wach, als ich Nicoles Stimme hörte.
    »Amanda, kannst du gleich kommen? Gita verlangt nach dir.« Dann folgte ein Schluchzen. »Es … es geht ihr nicht gut.«
    »Ich komme sofort!«, sagte ich leise, um Ulli nicht zu stören. Er jedoch hatte sich beim Klingeln nur mit einem leisen Schnarcherauf die andere Seite gedreht und die Decke über die Ohren gezogen. Der Anruf kam nicht ganz unerwartet, denn in den letzten Tagen hatte sich Gita Halstenberg immer weiter von uns zurückgezogen.
    Die alte Dame war meine Patientin, ich pflegte sie seit beinahe zwei Jahren. Anfangs brauchte sie nur etwas Hilfe bei den Bewegungen außer Haus, aber dann wurde sie schließlich schwächer, war an den Rollstuhl gebunden, und seit zwei Monaten hatte sie das Bett nicht mehr verlassen können. Gita war fünfundachtzig, und wenn auch ihre körperlichen Kräfte nachgelassen hatten, ihr Geist war noch immer klar und beweglich. Sie wohnte in einem alten, großen Haus, einer wundervoll renovierten Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, und wurde von Nicole und mir betreut. Nicole arbeitete als eine Art Sekretärin bei ihr, organisierte den Haushalt und war vor allem die Freundin von Gitas Sohn Ferdinand. Beide wohnten seit einiger Zeit mit in dem weitläufigen Haus.
    Ich hatte mich so lautlos wie möglich fertiggemacht, doch nichts entgeht meinem großohrigen Sohn. Er öffnete die Tür seines
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