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Die Herrin des Labyrints

Die Herrin des Labyrints

Titel: Die Herrin des Labyrints
Autoren: Andrea Schacht
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Eigentum gebracht. Ich habe nicht Schmerz zugefügt, und ich habe niemanden hungern lassen.
    Ich habe keine Tränen verursacht.
    Ich habe nicht getötet, und ich habe nicht zu töten befohlen.
    Niemandem habe ich ein Leid angetan.«
    So las ich, und Gita hielt die Augen geschlossen. Doch dann sah sie mich wieder an und nickte kaum merklich.
    »Nicht alles stimmt. Nein. Nicht alles.«
    Dann blieb sie wieder eine Weile still und schien zu dösen. Auch ich war schläfrig, und Patrick hatte seinen Kopf müde an die Sessellehne gelegt.
    »Aber ich will kein Waisenkind um sein Eigentum bringen.« Erschrocken zuckte ich zusammen, denn Gita hatte erstaunlich laut gesprochen. Sie sah mich mit ungewöhnlich klaren Augen an.
    »Behalten Sie die Mappe und den Umschlag, Amanda. Sie werden beides brauchen.«
    »Was soll ich denn für Sie tun?«, fragte ich sie. Flüsternd, manchmal stockend erzählte Gita von ihrer Tochter, die sie vor über dreißig Jahren verlassen hatte. Verblüfft hörte ich zu. Mir war nicht bekannt gewesen, dass Nandi eine Schwester hatte. Josiane hieß sie, wurde aber liebevoll Josi gerufen. Gita liebte sie, zu sehr vielleicht, denn als Josi zwanzig war, fühlte sie sich eingeengt von der ständigen Bemutterung. Sie verließ das Haus nach einem Streit und ging mit einem Mann ins Ausland. Selten nur ließ sie ihrer Mutter eine Nachricht zukommen, und selbst als sie bei einem Unglück in Ägypten ums Leben kam, dauerte es zwei weitere Jahre, bis Gita davon erfuhr.
    »Aber ich weiß, sie hatte ein Kind, Amanda. Auch wenn das niemand glauben will. Es ist eine Tochter, und sie ist meine Erbin. Amanda, suchen Sie meine Enkelin!«
    »Ja, aber …« Ich wollte aufbegehren, aber dann wurde mir wieder bewusst, dass hier keine Diskussion mehr möglich war. Was immer ich sagen könnte, was an logischen Argumenten einwenden, es war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Gita befand sich an der Schwelle des Todes, und das Einzige, was ich für sie tun konnte, war, ihr den Übergang zu erleichtern. So nahm ich also ihre weiße, kühle Hand in die meine und versprach ihr, alles zu tun, was mir möglich war.
    »Danke«, seufzte Gita leise und schloss wieder die Augen.
    Es war still im Haus, absolut ruhig. Patrick hatte sich in den Polstern wie ein junger Hund zusammengerollt und schien zuschlafen. Hinter den Gardinen verlor die Nacht ihre Schwärze, und das erste, zaghafte Tschilpen eines verschlafenen Vogels kündete das Anbrechen eines neuen Tages an. Unter meinen Fingern fühlte ich den schwachen, unregelmäßigen Puls der alten Dame. Ich hatte schon an einigen Sterbebetten gesessen, bei meiner Mutter und meinem Vater, bei einigen Pflegefällen auch. Es hat mich immer tief berührt, aber nie hatte ich eine solche Fülle von Liebe gefühlt wie die, die jetzt aus mir herauszuströmen schien. Natürlich mochte ich Gita, sie war eine bewundernswerte, intelligente und äußerst originelle Frau. Mich überraschte mein eigenes Gefühl, als ich sie jetzt ansah.
    Weitere Vögel hoben zu zwitschern an, und mit einem Mal schienen alle mit ihren Liedern den neuen Morgen zu begrüßen.
    Die Finger in meiner Hand bewegten sich ganz sacht, und ich sah zu Gita hin. Sie bewegte die Lippen, aber ich konnte sie nicht verstehen. Darum neigte ich mich weit vor, so dass sie direkt in mein Ohr wispern konnte.
    »Amadea. Das ist dein Name, Kind. Amadea, so heißen wir alle, wenn wir auf die Welt kommen und wenn wir sie verlassen. Amadea, wie schön, dass du jetzt bei mir bist.«
    Ich küsste sie zart auf die Wange, aber als ich mich zurücklehnte und wieder ihre Hand ergreifen wollte, war sie schlaff geworden, und der Puls war nicht mehr zu spüren. Bis in die Grundfesten erschüttert, starrte ich in den dämmerigen Morgen hinaus, und die Zeit nahm eine andere Dimension an.
    »Baba, was ist los mit dir? Baba, komm! Baba!!!« Patrick schüttelte meine Schulter, und ich bemühte mich, wieder zu mir zu kommen. Aber wo ich in diesen wenigen Minuten gewesen war und warum, das wusste ich einfach nicht mehr.
KAPITEL 3

    Der Beginn der göttlichen Wanderung
    In der Welt hinter den Welten eilte eine junge Göttin ihrem Geliebten entgegen, mit dem sie seit Äonen nicht mehr zusammen gewesen war. Die Arme geöffnet, mit wehenden Haaren und einem glückseligen Lächeln auf dem strahlenden Gesicht lief sie auf ihn zu. Doch ehe sie ihn erreichen konnte, stolperte sie und fiel in ein tiefes, schwarzes Loch. Sie wehrte sich und versuchte, dem Sog zu entkommen,
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