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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Vatikanischen Bibliothek ein Manuskript der Georgica des Vergil aus dem 4. oder 5. Jahrhundert bewundert habe. Die obere Hälfte jeder Seite war illustriert. Aber noch nie in meinem Leben habe ich ein ganzes volumen gesehen. Die ältesten Schriftrollen überhaupt, die Manuskripte vom Toten Meer, habe ich in Jerusalem im Museum gesehen. Sie sind aufgrund ganz besonderer klimatischer Bedingungen erhalten geblieben. Ebenso die ägyptischen Papyri, die, glaube ich, zu den ältesten Texten überhaupt zählen.
     
    J.-P. DE T.: Sie erwähnen als Datenträger dieser Texte Papyri, vielleicht Papier. Zweifellos müssen wir hier auch ältere Medien in Betracht ziehen, die in der einen oder anderen Weise zur Geschichte des Buches gehören …
     
    J.-C. C.: Natürlich. Es gibt vielerlei Datenträger für Geschriebenes: Stelen, Tafeln, Stoffe. Und es gibt vielerlei Arten von Geschriebenem. Aber mehr als das Medium interessiert uns die Botschaft, die diese Fragmente uns übermitteln, einer kaum vorstellbaren Vergangenheit entrissen. Ich möchte Ihnen ein Bild aus einem Auktionskatalog zeigen, den ich heute Morgen bekommen habe. Es handelt sich um einen Fußabdruck des Buddha. Man muss sich das genau vor Augen führen. Stellen wir uns vor, der Buddha geht. Er schreitet voran in seiner Legende. Eine seiner physischen Besonderheiten ist, dass er auf den Fußsohlen Inschriften trägt. Bedeutende Inschriften, versteht sich. Beim Gehen drückt er diese Zeichen also in den Boden, als ob jeder seiner Schritte eine Gravur wäre.
     
    U. E.: Das sind die Abdrücke vor dem Chinese Theatre am Hollywood Boulevard avant la lettre .
     
    J.-C. C.: Wenn Sie so wollen. Buddha erteilt seine Lehren, indem er geht. Man braucht nur seine Spuren zu lesen. Und dieser Abdruck ist natürlich nicht irgendein beliebiger Abdruck. In ihm ist der gesamte Buddhismus enthalten oder, anders gesagt, die 108 Gebote, die sämtliche belebten und unbelebten Welten darstellen und die der Geist des Buddha beherrscht.
    Aber wir sehen darin auch alle Arten von Stupas, kleine Tempel, Gesetzesräder, Tiere, Bäume, Wasser, Licht, Nagas,Opfergaben, all das ist enthalten in einem einzigen Fußabdruck von der Größe der Sohle des Buddha. Das ist Druck vor Erfindung des Druckereiwesens. Ein emblematischer Abdruck.
     
    J.-P. DE T.: S o viele Fußabdrücke wie Botschaften, die seine Jünger sich dann zu entziffern bemühen. Wie soll man die Frage nach den Anfängen des Geschriebenen nicht mit der Abfassung unserer heiligen Texte in Verbindung bringen? Ausgehend von diesen Dokumenten, die nach einer uns verborgenen Logik abgefasst sind, bilden sich doch dann die großen Glaubensbewegungen. Aber auf welcher Grundlage genau? Welchen Wert soll man diesen Fußabdrücken beimessen, oder unseren »vier« Evangelien zum Beispiel? Warum vier? Und warum ausgerechnet diese?
     
    J.-C. C.: Ja, warum ausgerechnet vier, da es doch ziemlich viele davon gab? Lange nachdem diese vier Evangelien von den im Konzil versammelten Kirchenmännern ausgewählt worden waren, hat man immer weitere gefunden. Noch im 20. Jahrhundert wurde das sogenannte Evangelium nach Thomas entdeckt, das älter ist als die nach Markus, Lukas und Matthäus und nur Aussprüche von Jesus enthält.
    Heute ist sich die Mehrheit der Experten einig, dass es sogar ein ursprüngliches, erstes Evangelium gegeben haben muss, die sogenannte Logienquelle oder Q, das heißt eine erste Quelle, die sich ausgehend von den Evangelien Lukas, Matthäus und Markus rekonstruieren lässt, da alle drei auf dieselben Quellen Bezug nehmen. Dieses ursprüngliche Evangelium ist völlig verschwunden. Während die Experten, seine Existenz vorausahnend, an seiner Rekonstruktion arbeiten.
    Was ist das also, ein heiliger Text? Etwas Unklares, ein Puzzle? Im Fall des Buddhismus liegen die Dinge etwas anders. Auch der Buddha hat nichts aufgeschrieben. Aber im Unterschied zu Jesus hat er viel länger gepredigt. Es ist eine anerkannte Tatsache, dass Jesus maximal zwei oder drei Jahre lang gepredigt hat. Der Buddha hat, ebenfalls ohne zu schreiben, mindestens fünfunddreißig Jahre lang gelehrt. Ein sehr enger Schüler, Ananda, begann unmittelbar nach seinem Tod, seine Worte aufzuzeichnen, unterstützt von einer Gruppe von Anhängern. Die Predigt von Benares , die ersten Worte des Buddha, der Text, der die berühmten »Vier edlen Wahrheiten« enthält, die auswendig gelernt und sorgfältig aufgezeichnet werden, und der die Grundlagen aller buddhistischen
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