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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Geschwindigkeit der technischen Erneuerungen zwingt uns, unsere mentalen Gewohnheiten in einem unerträglichen Tempo neu zu organisieren, in der Tat. Alle zwei Jahre müsste man den Computer wechseln, denn genau darauf sind diese Apparate angelegt: nach einer gewissen Zeit obsolet zu werden, wenn die Reparatur teurer wird als die Neuanschaffung. Jedes Jahr müsste man das Auto wechseln, weil das neueste Modell im Hinblick auf Sicherheit und elektronische Extras Vorteile bietet. Und jede neue Technologie erfordert den Erwerb neuer Reflexe, also neue Anpassungsleistungen, und das innerhalb immer kürzerer Zeiträume. Die Hühner haben annähernd hundert Jahre gebraucht, um zu lernen, dass sie nicht über die Straße laufen dürfen. Ihre Spezies hat sich schließlich den neuen Verkehrsverhältnissen angepasst. Wir haben aber nicht so viel Zeit zu Verfügung.
     
    J.-C. C.: Können wir uns wirklich einem Rhythmus anpassen, der sich auf eine völlig ungerechtfertigte Weise beschleunigt? Nehmen wir zum Beispiel den Filmschnitt. Bei den Videoclips haben wir einen derart schnellen Rhythmus erreicht, dass er sich nicht weiter steigern lässt. Man würde sonst einfach nichts mehr erkennen. Ich führe dieses Beispiel an, um zu zeigen, wie die Technik ihre eigene Sprache hervorbringt und wie umgekehrt diese Sprache die Technik dann zwingt, sich weiterzuentwickeln, und das auf immer hastigere, überstürztere Weise. In amerikanischen Actionfilmen oder solchen, die sich dafür ausgeben, darf heutzutage keine Einstellung länger als drei Sekunden dauern. Das ist eine Art feste Regel geworden. Ein Mann kommt nach Hause, schließt die Tür auf, zieht den Mantel aus und steigt in den ersten Stock hinauf. Nichts passiert, nirgendwo lauert Gefahr, aber die Sequenz ist in achtzehn Einstellungen zerlegt. Als ob die Technik die Handlung hervorbringen würde, als ob die Handlung in der Kamera selbst läge und nicht in dem, was sie uns zeigt.
    Am Anfang war die Filmtechnik einfach. Man stellte eine Kamera auf und filmte eine Theaterszene: Schauspieler kommen herein, tun, was sie zu tun haben, und gehen wieder hinaus. Doch schon bald bemerkte man, dass die Bilder, wenn man die Kamera auf einen fahrenden Zug montierte, in der Kamera selbst und dann auf der Leinwand vorbeizogen. Die Kamera kann eine Bewegung einfangen, verarbeiten und wiedergeben. So hat sie angefangen, sich zu bewegen, zuerst vorsichtig, in den Studios, dann wurde sie allmählich selbst zur Akteurin. Sie schwenkte nach rechts und nach links. Dann mussten die so gewonnenen Bilder aneinandergeklebt werden. Das war der Beginn einer neuen Sprache durch die Montage. Buñuel, der 1900 geboren ist,also gleichzeitig mit dem Film, erzählte mir, wenn er 1907 oder 1908 in Saragossa ins Kino ging, habe es da einen sogenannten explicador gegeben, einen Mann mit Zeigestab, der erklären musste, was auf der Leinwand vor sich ging. Die neue Sprache war noch nicht verständlich, sie war noch nicht allen geläufig. Wir haben uns inzwischen an sie gewöhnt, aber die großen Filmemacher arbeiten auch heute noch unablässig daran, sie weiter zu verfeinern, zu perfektionieren und – zum Glück – auch zu verfremden.
    Wie in der Literatur gibt es auch im Film eine »hohe« Sprache, gerne prahlerisch und pompös, eine gewöhnliche, banale Sprache und sogar einen Jargon. Außerdem wissen wir, dass jeder große Filmemacher – wie es Proust den großen Autoren nachsagte – seine eigene, ganz persönliche Sprache entwickelt, zumindest ansatzweise.
     
    U. E.: Der italienische Politiker Amintore Fanfani, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts geboren war, also zu einer Zeit, als der Film noch nicht wirklich verbreitet war, hat in einem Interview einmal gesagt, er gehe nicht gern ins Kino, ganz einfach weil er nicht verstehe, dass die Person, die er in der Gegeneinstellung sehe, dieselbe sei wie die, die er eben noch von vorne gesehen habe.
     
    J.-C. C.: Tatsächlich waren erhebliche Vorsichtsmaßnahmen nötig, um die Zuschauer nicht zu verschrecken, die ja ein neues Ausdrucksgebiet betraten. Im klassischen Theater dauert die Handlung genauso lange wie das, was wir auf der Bühne sehen. In einer Szene von Shakespeare oder Racine gibt es keine Schnitte, die Zeitdauer auf der Bühne und im Zuschauerraum ist dieselbe. Godard dagegen war, glaube ich, der erste, der in Außer Atem eine Szene mit zwei Personenin einem Raum drehte und dann beim Schnitt nur wenige kurze Sequenzen daraus verwendete, nur
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