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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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Laufen zu halten. Man denke bloß an den großen Blackout in New York im Juli 2006. Man stelle sich vor, so etwas hält etwas länger an, zieht sich hin. Ohne Strom ist alles unwiederbringlich verloren. Bücher hingegen können wir auch dann noch lesen, wenn das gesamte audiovisuelle Erbe verlorengegangen ist, bei Tageslicht oder nachts bei einer Kerze. Das 20. Jahrhundert ist die erste Epoche, die bewegte Bilder und Tonaufzeichnungen von sich und ihrer Geschichte hinterlässt – aber immer noch auf schlecht gesicherten Trägern. Merkwürdig: Wir haben keine Tonaufnahmen aus der Vergangenheit. Wir können uns freilich vorstellen, dass der Vogelgesang früher genauso war, das Plätschern der Bäche …
     
    U. E.: Nicht aber die menschlichen Stimmen. Im Museum entdeckt man, dass die Betten unserer Vorfahren schmaler und kürzer waren: Die Menschen waren also kleiner. Was notwendigerweise eine andere Stimmlage bedingt. Wenn ich alte Aufnahmen von Caruso höre, frage ich mich immer, ob der Unterschied zwischen seiner Stimme und der der großen Tenöre von heute nur an der technischen Qualität der Aufnahme und des Datenträgers liegt oder daran, dass die menschliche Stimme am Beginn des 20. Jahrhunderts anders war als unsere heute. Zwischen der Stimme Carusos und der Pavarottis liegen Jahrzehnte vermehrter Proteinzufuhr und des medizinischen Fortschritts. Die italienischen Einwanderer in den USA vom Anfang des 20. Jahrhunderts waren im Durchschnitt etwa einen Meter sechzig groß, während ihre Enkel bereits an eins achtzig heranreichten.
     
    J.-C. C.: Während meiner Zeit an der Fémis habe ich den Studenten im Fach Ton einmal die Aufgabe gestellt, bestimmte Töne, bestimmte Klangräume der Vergangenheit zu rekonstruieren. Ich forderte sie auf, zu einer Satire von Boileau, Les embarras de Paris, die Tonspur zu gestalten. Wobei ich präzisierte, dass die Straßen mit Holz gepflastert waren, die Wagenräder aus Eisen, die Häuser niedriger usw.
    Das Gedicht beginnt so: »Wer, bei Gott, peitscht die Luft mit solch schaurigen Schreien?« Was sind »schaurige« Schreie, nachts in Paris, im 17. Jahrhundert? Es ist eine faszinierende Erfahrung, durch Geräusche in die Vergangenheit einzutauchen, aber auch schwierig. Denn wie kann man das Ergebnis überprüfen?
    Sollte das Bild- und Tongedächtnis des 20. Jahrhunderts durch einen gigantischen Stromausfall oder auf andere Weise ausgelöscht werden, bleibt uns trotzdem noch das Buch. Man wird immer Mittel und Wege finden, den Kindern das Lesen beizubringen. Die Vorstellung einer Bedrohung der Kultur, einer Gefährdung der Erinnerung ist sehr alt, wahrscheinlich genauso alt wie das Geschriebene selbst. Ich kann Ihnen dafür ein weiteres Beispiel geben, aus der Geschichte des Irans. Bekanntlich stand eine der Wiegen der persischen Kultur im heutigen Afghanistan. Als die Mongolengefahr im Lauf des 11. und 12. Jahrhunderts größer und unausweichlich wurde – wo die Mongolen vorbeikamen, zerstörten sie alles –, packten die Intellektuellen und Künstler zum Beispiel aus Balkh, darunter der Vater des künftigen Rumi, ihre kostbarsten Manuskripte zusammen und brachen auf. Sie zogen nach Westen, in die Türkei. Wie viele andere exilierte Iraner lebte Rumi dann bis zum Tod im anatolischen Konya. Eine Anekdote berichtet von einem dieser Flüchtlinge, wie er auf seinem Weg ins bitterste Elend gerät und die kostbarenBücher als Kopfkissen benutzt. Bücher, die heute ein kleines Vermögen wert sein müssen. In Teheran habe ich bei einem Liebhaber eine Sammlung illustrierter alter Manuskripte gesehen – wunderbar! Alle großen Kulturen sahen sich also mit derselben Frage konfrontiert: Was tun mit einer bedrohten Kultur? Wie kann man sie retten? Und was davon soll man retten?
     
    U. E.: Und wenn die Rettung gelingt, wenn man die Zeit findet, die Embleme der Kultur an einen sicheren Ort zu schaffen, dann sind Manuskripte, Kodizes, Inkunabeln und Bücher leichter zu retten als Skulpturen oder Gemälde.
     
    J.-C. C.: Trotzdem bleibt dieses ungelöste Rätsel: Fast alle volumina , die Schriftrollen der römischen Antike, sind verschwunden. Dabei unterhielten die römischen Patrizier doch Bibliotheken mit Tausenden von Werken. Einige davon kann man noch in der Vatikanischen Bibliothek betrachten, aber der größte Teil ist nicht auf uns gekommen. Das älteste Textfragment eines Evangeliums, das wir besitzen, stammt bereits aus dem 4. Jahrhundert. Ich erinnere mich, dass ich in der
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