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Die große Zukunft des Buches

Titel: Die große Zukunft des Buches
Autoren: Umberto Eco , Jean-Claude Carrière
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einmal steht Alexander der Große vor einer Entscheidung mit unabsehbaren Folgen. Man hat ihm von einer Frau erzählt, die zuverlässig die Zukunft vorhersagen kann. Er lässt sie kommen, damit sie ihn ihre Kunst lehrt. Sie sagt, er solle ein großes Feuer anzünden lassen und die Zukunft aus dem aufsteigenden Rauch ablesen wie aus einem Buch. Sie warnt den Eroberer allerdings auch: Während erden Rauch beobachte, dürfe er auf keinen Fall an das linke Auge eines Krokodils denken; an das rechte vielleicht, aber keinesfalls an das linke.
    Da verzichtet Alexander darauf, die Zukunft kennenzulernen. Warum? Weil man, wenn man aufgefordert wird, nicht an etwas zu denken, nur noch daran denkt. Das Verbot wird zum Zwang. Unmöglich, nicht an dieses linke Auge des Krokodils zu denken. Das Auge des Tiers hat von Alexanders Gedächtnis, von seinem Geist Besitz ergriffen.
    Manchmal ist Erinnern und Nicht-Vergessen-Können ein Problem, im Falle Alexanders gar ein Drama. Es gibt Menschen, die besitzen die Gabe, gestützt auf sehr einfache mnemotechnische Regeln, alles im Kopf zu behalten, und die nennt man Mnemoniker. Der russische Neurologe Alexander Luria hat sie untersucht und beschrieben. Aus dessen Buch hat Peter Brook sein Theaterstück Ich bin ein Phänomen entwickelt. Wenn man einem Mnemoniker etwas erzählt, kann er es nicht mehr vergessen. Er ist perfekt wie eine Maschine, dabei aber verrückt, er zeichnet alles auf, ohne Unterschied. In diesem Fall ist das ein Defekt, kein Vorzug.
     
    U. E.: Alle mnemotechnischen Verfahren arbeiten mit dem Bild einer Stadt oder eines Palasts, und jeder der zu memorisierenden Gegenstände wird mit einem Teil davon in Verbindung gebracht. Cicero berichtet in De oratore von Simonides, der in Gesellschaft angesehener Gäste aus Griechenland an einem Gastmahl teilnahm. Irgendwann verlässt er die Gesellschaft, und kurz darauf werden sämtliche Gäste unter dem einstürzenden Dach des Hauses begraben, sie sind alle tot. Man ruft Simonides, um die Toten zu identifizieren. Das gelingt ihm, indem er sich daran erinnert, welchen Platz jeder Einzelne am Tisch eingenommen hatte.
    Die Kunst der Mnemotechnik besteht also darin, räumliche Vorstellungen mit Gegenständen oder Begriffen zu verknüpfen, so dass sie unauflöslich zusammengehören. Weil er das linke Auge des Krokodils mit dem Rauch, den er beobachten soll, assoziiert, ist in Ihrem Beispiel Alexander in seinem Handeln nicht mehr frei. Noch im Mittelalter gibt es die Kunstübung des Erinnerns. Man möchte meinen, nach der Erfindung des Buchdrucks habe sich der Gebrauch der Mnemotechniken nach und nach verloren. Dabei sind gerade in jener Zeit die schönsten Bücher zur Mnemotechnik erschienen!
     
    J.-C. C.: Sie sprachen von den Originalen der großen Comicwerke, die nach dem Druck weggeworfen wurden. Beim Kino ist es dasselbe. Wie viele Filme sind nicht auf diese Weise verschwunden! Seit den zwanziger, dreißiger Jahren ist der Film in Europa zur »Siebten Kunst« avanciert. Seit damals hält man es jedenfalls für der Mühe wert, Kunstwerke zu bewahren, die nunmehr ein Teil der Kunstgeschichte sind. Aus diesem Grund entstanden die ersten Filmarchive, zunächst in Russland, dann in Frankreich. Aber aus amerikanischer Sicht ist der Film keine Kunst, noch heute gilt er dort als erneuerbares Produkt. Zorro, Nosferatu, Tarzan müssen immer wieder neu gemacht werden, die alten Vorbilder, die alten Bestände also weggeworfen werden. Das Alte, insbesondere wenn es von hoher Qualität ist, könnte dem neuen Produkt ja Konkurrenz machen. Das amerikanische Filmarchiv ist erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründet worden, das muss man sich mal vorstellen! Es war ein langer und harter Kampf, Subventionen dafür aufzutreiben und die Amerikaner für die Geschichte ihres eigenen Kinos zu interessieren. Die erste Filmhochschuleder Welt ist in Russland entstanden. Wir verdanken sie Sergej Eisenstein, der es für unverzichtbar hielt, eine Filmhochschule zu gründen, die dasselbe Niveau hat wie die Schulen für Malerei und Architektur.
     
    U. E.: In Italien schrieb ein großer Dichter wie Gabriele d’Annunzio bereits Anfang des 20. Jahrhunderts für das Kino. Zusammen mit Giovanni Pastrone arbeitete er an dem Drehbuch für Cabiria . In Amerika hätte man ihn nicht ernst genommen.
     
    J.-C. C.: Vom Fernsehen ganz zu schweigen. Ein Fernseharchiv einzurichten erschien anfangs völlig absurd. Die Gründung des Institut National de
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