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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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hatte Glabrecht dieses Individuum nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich war es ihm einfach zu heiß gewesen. Jetzt saß der Kerl wieder an seiner Lieblingsstelle, an der Ecke des Gebäudes, dort, wo die Hunde gerne hinpissten. Offenbar liebte er den Gestank. Eigentlich war er durchaus friedlich, sah man davon ab, dass er in äußerster Lautstärke häufig »Verrrrrnichtung« schrie, mit heroisch gerolltem »r«! Glabrecht hörte das gern. Wirklich schade, dass diese Art zu sprechen im Rahmen der deutschen Vergangenheitsbewältigung ausgerottet worden war.
    Eine Zeit lang, im Frühjahr, als die Sache neu war, verlangsamte Glabrecht sogar seine Schritte, um eventuell in den Genuss einer »Verrrrrnichtung« zu kommen. Inzwischen konnte er sich diese Maßnahme schenken, denn der Mann hatte längst erkannt, dass der Senator – wenn man so wollte – sein Kunde geworden war. Wie anders hätte sich dieser Satz erklären lassen, den er ein einziges Mal in Glabrechts Richtung gerufen hatte, dieses » Du gehörst auch dazu?«
    Auch heute versuchte er, »Vernichtung« zu brüllen. Seine Stimme war aber noch recht leise, schüchtern und krähend, sie hätte sich besser für andere Wörter geeignet, vielleicht für »Selbstvernichtung« oder »Verzweiflung«.
    Die heroischen »R«s waren bei Glabrecht leider zu einem kleinen Tic geworden, den er im Augenblick nur mit Mühe unter Kontrolle hatte. Wenn er über seinen persönlichen Referenten redete und dabei, wie üblich, einfach von »R« sprach, kam das häufig gerollt hervor. Auch fügte er in die ihm angelieferten Redeentwürfe Wörter wie »morbid«, »markant«, »grausam«, »verhindern« und natürlich »vernichten« ein. Einmal hätte sich sogar um ein Haar das Wort »Vorsehung« in einem Text festgesetzt. Da die schließlich zum Vortrag gekommenen Redetexte über die jeweiligen Lieferanten des Entwurfs zu den Akten verfügt wurden, fiel den Schreibern die neu entstandene Vorliebe ihres Chefs für heroische, r-lastige Wörter auf, was wiederum dazu führte, dass sie den nächsten Redeentwurf von vorneherein sozusagen im Sound des Herrn verfassten – eine für Glabrecht durchaus gefährliche Rückkopplung.
    Mit beschleunigtem Schritt, so, als sei er unter Dampf – der Senator kam mit einem Koffer voller Verhandlungsergebnisse von einer wichtigen Auslandsreise zurück –, betrat Glabrecht das Gebäude.
    Wochenlang abgestandene Hitze schlug ihm entgegen. Im Aufzug war es noch schlimmer. Als er im zehnten Stock sein Vorzimmer durchmaß, war er wieder der Mann mit dem Sechzehn-Stunden-Tag. »Sechzehn Stunden, sieben Tage die Woche«, hatte es in einem Portrait von Radio Bremen geheißen. Er grüßte Frau Scholz, seine Sekretärin, die ihn mit frohem und verliebtem Gesichtsausdruck anschaute. Frau Scholz, Anfang vierzig, kinderlos, war erst vor Kurzem mit einem frühpensionierten Wohnmobilbesitzer eine Last-Minute-Ehe eingegangen. Dass dieser ehemalige Berufsschullehrer, genau wie er selbst, »Georg« hieß, ärgerte Glabrecht. Von ihrer letzten Reise nach Kroatien hatte Frau Scholz die beiden Kätzchen Lilli und Lucie mitgebracht, die er dann übernommen hatte, weil der Vermieter der neuen ehelichen Wohnung die Tierhaltung verbot. Frau Scholz war nicht besonders hässlich, lediglich leicht verfettet. Wenn die Hitze alles und jeden in einer Art Trance gefangen hielt, wenn sich in Glabrechts Müdigkeit jene lästige Geilheit mischte, unter der er häufig litt, stellte er sich gelegentlich vor, wie es klatschen und wie Frau Scholz außer sich geraten würde, wenn ihr bewunderter Chef ihr die Gnade erweisen würde, ihr unwürdiges Fleisch zu penetrieren.
    Manchmal fesselte ihn genau dieser magische Zustand, in dem auch Frau Scholz sich befand, wenn nämlich an einer eben noch jungen Frau innerhalb von ein, zwei Jahren die Merkmale der Frau in den mittleren Jahren sichtbar wurden – Taschenbildung an den Wangen, Kräusel an der Oberlippe, Fettablagerung im Nacken, zunehmende Vertonnung des Leibes und so weiter –, zunächst nur selten, in gewissen Lichtsituationen, dann immer häufiger, ein fürchterliches Verhängnis, eine Verheerung, die ihn erregte. Eben noch waren die Ohrringe für den einen oder anderen Mann hübsch, das Parfum war sexy. Nur wenig später war das Ohrgehänge peinlich, der Duft in seiner ganzen absurden Vergeblichkeit nichts als aufdringlich. Die Kürze des Lebens zeigte sich in aufgeilender Obszönität.
    »Frau Scholz, ich melde mich später, und Sie sagen
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