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Die Grasharfe

Titel: Die Grasharfe
Autoren: Truman Capote
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Speisekammertür geschnitten sind; denn auch heute noch, wo so vieles dahin ist, und nur noch der Wind im Herd heult und Winter in der Küche ist, sind diese Merkzeichen meines Wachstums da wie ein Vermächtnis.
      Trotz der segensreichen Wirkung, die Dollys Arzneien bei jenen hatten, die sie bestellten, kamen ab und zu Briefe, die besagten: Liebe Miß Talbo, wir brauchen keine Tropfen mehr, aus dem einfachen Grunde, die arme Kusine Belle (oder wer immer) starb letzte Woche. Gott sei ihrer Seele gnädig. Dann wurde die Küche ein Ort der Klage; freudlos, mit gefalteten Händen und gebeugten Häuptern riefen sich meine beiden Freundinnen die Begleitumstände des Falles zurück, und Catherine meinte: „Nun ja, wir machten es so gut, wie wir es konnten, Dollyherz, aber der Herrgott wollte es anders." Auch Verena konnte die Küche trübe stimmen, wenn sie fortwährend eine neue Anordnung gab, oder eine alte wieder erzwang: Tu das, tu das nicht, hör auf, fang an – als ob wir Uhren wären, auf die sie ein Auge haben mußte, damit unsere Zeit mit der ihren übereinstimmte, und wehe, wenn wir zehn Minuten vorgingen oder eine Stunde nach. Verena sprang hervor wie der Kuckuck aus dem Türchen. „Jene!" sagte dann Catherine, und Dolly füsterte: „Pscht, pscht, still!", als ob sie nicht nur Catherine beruhigen wollte, sondern auch eine rebellische innere Stimme. In ihrem Herzen wünschte Verena, glaube ich, in der Küche gleichberechtigt zu sein; aber sie glich einem einsamen Mann, der in einem Haus voller Frauen und Kinder lebt, und ihr Kontakt mit uns waren einzig die rechthaberischen Ausbrüche: „Dolly, schaff das Kätzchen fort, willst du mein Asthma verschlimmern? Wer hat das Wasser im Badezimmer laufen lassen? Wer von euch hat meinen Schirm zerbrochen?" Ihre üblen Launen durchkrochen das Haus gleich einem trüben gelben Nebel. „Jene!" „Pscht, pscht, still!"
       Einmal in der Woche, gewöhnlich am Samstag, gingen wir in die Flußwälder. Für diese Ausfüge, die den ganzen Tag beanspruchten, richtete Catherine ein Brathuhn und ein Dutzend Pfeffereier, und Dolly nahm eine Schokoladeschichttorte mit und einen Vorrat von Bonbons. Derart ausgerüstet und mit drei leeren Getreidesäcken wanderten wir den Kirchweg entlang hinter den Friedhof durch das Präriegras. Gleich nachdem man den Wald betrat, kam man an einen doppelstämmigen Paternosterbaum, eigentlich waren es zwei Bäume mit so ineinander verschlungenen Zweigen, daß man von dem einen in den anderen klettern konnte; und sie waren tatsächlich durch ein Baumhaus verbunden, ein geräumiges, handfestes, vorbildliches Baumhaus; es glich einem Floß, das im Blättermeer dahintrieb. Die Knaben, die es erbaut hatten – vorausgesetzt, daß sie noch am Leben waren – müßten heute sehr alte Männer sein; denn das Baumhaus war gewiß schon fünfzehn oder zwanzig Jahre alt, als Dolly es zum erstenmal entdeckte, und das war ein Vierteljahrhundert vor dem Tag, an dem sie es mir zeigte.
       Man konnte es mühelos wie über eine Treppe erklimmen; Knorren in der Rinde stützten den Fuß, und es gab ein Geländer aus derben Weinranken. Selbst Catherine, die fette Hüften hatte und über Rheuma klagte, machte es keine Mühe. Aber Catherine liebte das Baumhaus nicht; sie wußte nicht, was Dolly wußte, und was sie auch mich wissen ließ: es war ein Schif, und wenn man darin saß, konnte man die wolkengesäumten Gestade aller Träume entlangsegeln. „Merk auf mein Wort", sagte Catherine, „Fußbodenlatten da sein zu alt, Nägel da sein schlüpfrig wie Würmer, gehen alles krach entzwei, gehen fallen und Köpfe zerschlagen – hab ich's nicht gesagt."
       Nachdem wir unsere Vorräte im Baumhaus eingelagert hatten, gingen wir getrennt in den Wäldern, jeder mit einem Getreidesack, den wir mit Kräutern, Blättern und wunderlichen Wurzeln füllten. Keiner von uns, nicht einmal Catherine, wußte genau, was alles in die Arznei kam, denn das war ein Geheimnis, das Dolly für sich behielt, und niemals erlaubte sie uns, das anzusehen, was sie in ihrem eigenen Sack sammelte. Sie band ihn so fest zu, als hielte sie darin einen verzauberten Prinzen oder ein blauhaariges Kind gefangen. Dies war ihre Geschichte: „Einmal, lang ist's her, als wir noch Kinder waren (Verena noch mit ihren Milchzähnen und Catherine nicht größer als ein Zaunpfahl), gab es hier so viel Zigeuner wie Vögel auf einem Fleck mit Blaubeeren – nicht wie jetzt, wo man im Jahr nur ganz wenige
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