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Die Grasharfe

Titel: Die Grasharfe
Autoren: Truman Capote
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Familie, sie ist verloren ohne ihre Schwester; die Männer gaben Doktor Morris Ritz die Schuld. Er hat ihr die ,Grütze geklaut', witzelten sie, und, wenn sie sich vorher auch ständig mit Verena gestritten hatten, das sprach gegen ihn. Drei Jahre später, als ich in die Stadt zurückkehrte, war es meine erste Aufgabe, die Papiere des Talbobesitzes zu ordnen, und unter Verenas persönlichen Sachen, ihren Schlüsseln, ihren Bildchen von Maudie Laura Murphy fand ich eine Postkarte. Das Datum lag zwei Monate nach Dollys Tod, um Weihnachten herum also, und sie war aus Paraguay: „Wie wir hier drunten sagen, Frohe Weihnacht. Vermißt Du mich? Morris." Als ich das las, dachte ich daran, daß von damals ab in ihren Augen ein unsicherer Glanz gewesen war; ich erinnerte mich ihres qualvollen, nach innen gerichteten Blickes, und wie ihre Augen, die durch das aufdringliche Licht an Rileys Hochzeitstag getränt hatten, durch eine plötzliche Hofnung zuversichtlicher schauten: „Es könnte eine lange Reise werden. Ich habe erwogen, ob ich einiges verkaufen soll – einigen Besitz. Wir könnten eine Schifsreise machen. Du hast das Meer noch nie gesehen." Ich riß einen Zweig mit Honigblüten von dem Wein an unserer Gartentür ab, und sie sah mir zu, wie ich ihn zerrupfe, als ob ich das Traumgespinst der Reise, die sie für uns plante, zerstören wollte. „Oh", sie strich über das Muttermal, das ihre Wange sprenkelte wie eine Träne. „Nun ja", bemerkte sie dann in sachlichem Ton, „was sind deine Absichten?"
       Es wurde September, ehe ich bei dem Richter vorsprach, und das tat ich nur, um ihm Lebewohl zu sagen. Die Kofer waren gepackt. Amos Legrand hatte mir das Haar geschnitten. („Liebling, daß du mir nicht kahlköpfig wieder nach Hause kommst. Ich meine, sie werden dich dort skalpieren und dich übers Ohr hauen, soweit sie irgend können.") Ich hatte einen neuen Anzug an und neue Schuhe und einen grauen Filzhut. („Bist ja geschniegelt und gebügelt, Mr. Collin Fenwick!" rief Mrs. County aus. „Advokat willst du werden? Und bist schon genau so angezogen? Nein, Kind, ich gebe dir keinen Kuß. Ich wäre außer mir, wenn ich deine Pracht mit meinem Backstubendreck besudelte. Aber schreib uns, hörst du?") Am Abend dieses Tages schon schaukelte der Zug mit mir nach Norden und ließ mich die Parade des Landes abnehmen bis zu jener Stadt, in der zu meinen Ehren Wimpel fatterten.
      Bei Miß Bell sagten sie mir, der Richter sei ausgegangen. Ich fand ihn auf dem Stadtplatz, und es gab mir einen Stich, als ich ihn erblickte: seine adrett gekleidete, kräfige Gestalt mit der weißen Rose, die sein Knopfoch schmückte, unter den alten Männern, die da saßen, schwatzten, spuckten und warteten. Er nahm meinen Arm und führte mich fort von ihnen; und während er mich aus den eigenen Erfahrungen seiner Studienzeit freundschaflich beriet, schlenderten wir bis hinter die Kirche und dann die Straße entlang, die zu den Flußwäldern führte. Jene Straße, jener Baum – ich schloß die Augen, um sie meinem Geist einzuprägen, denn ich glaubte nicht daran, daß ich jemals zurückkehren würde; ich sah nicht voraus, daß ich immer auf dieser Straße wandern, immer von diesem Baum träumen würde, bis sie mich endlich zurückholten.
      Es war, als ob keiner von uns sich dessen bewußt war, was wir im Sinn hatten. Mit stillem Staunen überblickten wir das Land von dem Friedhofshügel aus, und Arm in Arm stiegen wir hinab zu dem sommerverbrannten, herbstlodernden Grasfeld. Ein Katarakt von Farben stürzte sich durch die trockenen, sausenden Halme. Und da wünschte ich mir, daß der Richter wüßte, was Dolly mir einst erzählt hatte: Dieses, die Grasharfe war es, die alles bewahrte, die alles erzählte, die Harfe der Stimmen, die uns alles ins Gedächtnis zurückrief. Wir lauschten.
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