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Die Grasharfe

Titel: Die Grasharfe
Autoren: Truman Capote
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gedämpfen Schritt eines erfahrenen Jägers beschlich, aufmerksam auf jedes gebrochene Zweiglein. Was kam eigentlich, wollte sie wissen, in die Arznei? Dolly, zwar geschmeichelt, winkte trotzdem beinahe kichernd mit beiden Händen ab und sagte: „Nun, dies und das, nichts Besonderes."
       Verena schien die Angelegenheit fallen zu lassen; aber am Abendbrottisch ruhten ihre Blicke sehr of nachdenklich auf Dolly, und einmal, als wir im Hof um den kochenden Kessel versammelt waren, blickte ich auf und sah Verena am Fenster, durch das sie uns beharrlich und aufmerksam beobachtete; von da an hatte ihr Plan vermutlich Gestalt gewonnen, aber ihren ersten Schachzug tat sie nicht vor dem Sommer.
       Zweimal im Jahr, im Januar und im August, machte Verena Einkaufsreisen nach St. Louis oder nach Chicago. In diesem Sommer, dem Sommer meines sechzehnten Jahres, ging sie nach Chicago und kehrte nach zwei Wochen in Begleitung eines Mannes, eines Doktor Morris Ritz, zurück. Natürlich fragte sich jeder, wer Doktor Morris Ritz sei. Er trug regenbogenbunte Krawatten und aufallend moderne Anzüge; seine Lippen waren blau, und er hatte besonders schmale, unruhige Augen. Alles in allem sah er wie eine ärmliche Maus aus. Wir hörten, daß er im besten Zimmer vom Lola Hotel wohnte und in Phils Cafe Beefsteaks zum Abendbrot aß. Er fanierte auf den Straßen und verdrehte seinen Glatzkopf nach jedem Passanten. Bekanntschafen schloß er indessen nicht, und man sah ihn nie in Gesellschaf, ausgenommen in der Verenas, die ihn niemals ins Haus lud und seinen Namen niemals nannte, bis eines Tages Catherine zu sticheln begann: „Miß Verena, wer ist bloß dieser komisch aussehende kleine Doktor Morris Ritz?" Verenas Lippen verfärbten sich, und sie antwortete: „Nun ja, er sieht nicht halb so komisch aus wie manche, die ich nennen könnte."
    Die Leute sagten, die Art, wie es Verena mit dem kleinen Juden aus Chicago triebe, sei skandalös, mit einem, der zwanzig Jahre jünger war als sie. Es ging das Gerücht um, daß sie etwas mit der alten Konservenfabrik auf der anderen Seite der Stadt vorhätten. Wie es sich herausstellte, dachten sie auch daran, aber nicht an das, was der Klüngel beim Billard vermutete. Meistens am Nachmittag konnte man Verena und Doktor Morris Ritz zu der Konservenfabrik pilgern sehen, einer verlassenen, wetterzerstörten Ziegelsteinruine mit zerbrochenen Fenstern und abgesackten Türen. Ein Menschenalter lang war niemand dort gewesen als kleine Schulkinder, die dort Zigaretten rauchten und sich nackt tummelten. Anfang September, durch eine Notiz im ‚Courier', erfuhren wir zum ersten Male, daß Verena die alte Konservenfabrik gekauf habe; aber welchen Plan sie damit verfolgte, wurde nicht bekannt. Kurz darauf befahl Verena Catherine, zwei Hühner zu schlachten, da Doktor Morris Ritz am Sonntag zum Essen kommen würde.
      In all den Jahren, die ich dort lebte, war Doktor Morris Ritz der einzige Mensch, der in das Haus an der Talbostraße zum Essen eingeladen wurde. Es war also, auch aus anderen Gründen, ein Ereignis. Catherine und Dolly machten einen Frühjahrshausputz; sie klopfen Teppiche, holten Porzellan vom Dachboden und erreichten, daß jedes Zimmer nach Fußbodenwachs und Zitronenölpolitur roch. Es sollte Brathuhn und Schinken geben, englische Zuckererbsen, süße Kartofeln, Brötchen, Bananenpudding, zwei Sorten Kuchen und Tuttifruttieiscreme aus dem Drugstore. Sonntag vormittag kam Verena herunter, um sich den Eßtisch anzusehen. Mit seinem ausladenden Tafelaufsatz von pfrsichfarbenen Rosen und dem protzig massiven Silber wirkte er, als sei er für eine zwanzigköpfge Gesellschaf gedeckt; in Wirklichkeit waren nur zwei Gedecke aufgelegt. Verena stürzte fort und holte zwei weitere, und als Dolly es bemerkte, sagte sie scheu: Schön, schon recht, wenn Collin am Tisch mitessen will. Sie aber werde mit Catherine in der Küche bleiben. Verena stampfte mit dem Fuß auf: „Mach keine Scherze mit mir, Dolly. Diese Sache ist wichtig, Morris kommt ausdrücklich, um dich zu treffen. Und darüber hinaus würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn du deinen Kopf hoch hieltest, mir wird schwindlig, wenn du ihn so hängen läßt."
       Dolly war auf den Tod verletzt; sie versteckte sich in ihrem Zimmer, und lange nachdem unser Gast eingetrofen war, wurde ich ausgeschickt, um sie zu holen. Sie lag in dem rosa Bett mit einem feuchten Waschlappen auf der Stirn, und Catherine saß neben ihr. Catherine war
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