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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin
Autoren: Peter Prange
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seinen Augen rannen Tränen.
    »Nein!«, schrie Philippas Mutter. »Ich flehe Euch an! Im Namen des Herrn!«
    Aber ihr Mann stieß sie zur Seite. »Still, Weib! Ich muss es tun! Um ihrer Seele willen!«
    Philippa sah in die weinenden Augen ihres Vaters, während sie seine Hände an ihrer Kehle spürte. Wie ein eisernes Joch schlössen sie sich um ihren Hals.
    »Verzeih mir, meine Tochter«, sagte er und drückte zu. Philippa schwanden die Sinne. Während sie in Ohnmacht fiel, unfähig, sich zu rühren, suchten ihre Gedanken in der Finsternis das Licht, losgelöst von ihrem Körper. Und irgendwann, nach einem Wimpernschlag, der eine Ewigkeit währte, kam die Erkenntnis über sie, hell und klar. Es war der Tag des Pessachfestes, an dem die Juden Opfertiere schlachteten, um den Auszug aus Ägypten zu feiern, die Befreiung aus der Sklaverei. Darum musste ihr Vater sie töten, als sein Opferlamm, um Gottes Willen zu erfüllen ...
    Auf einmal strömte das Leben in ihren Körper zurück, und mit Händen und Füßen wehrte sie sich gegen die tödliche Umarmung.
    »Nein, nein! Ich will nicht sterben!«
    Als sie die Augen aufschlug, sah sie im Rücken ihres Vaters einen Soldaten. Groß wie ein Riese wuchs er in den Himmel empor. »Vater!«, schrie sie. »Hinter Euch!«
    Zu spät. Eine Klinge blitzte auf, ein Schwirren war in der Luft, dann fuhr das Schwert zwischen die Mantelflügel, das eiserne Joch löste sich von Philippas Hals, und ihr Vater sank leblos zu Boden.
    Gleich darauf ergoss sich ein Schwall Wasser über Philippa und ihre Mutter.
    »Ich taufe euch im Namen des allmächtigen Gottes - des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Amen!« Noch lange Stunden wurden die Juden gegen ihren Willen getauft, ein Unheil so groß und schrecklich wie einst die Zerstörung des Tempels von Jerusalem. In der Verzweiflung, auf ewig getrennt zu werden, taten es viele Eltern Philippas Vater gleich, erdrosselten ihre Kinder und legten dann Hand an sich selbst. Lieber wollten sie den Tod erleiden, als mit ihren Peinigern dermaleinst dasselbe Himmelreich zu teilen. Manche Juden stürzten sich, den Namen des Herrn auf den Lippen, in die Schwerter ihrer Schlächter, andere rannten mit den Köpfen gegen steinerne Mauern an, um sich den Schädel zu zertrümmern, manche entleibten sich noch in den Kirchen, bevor man sie vor das Taufbecken zerren und in das gefürchtete Wasser tauchen konnte. Ihre Leichen wurden von den Christen im Angesicht der überlebenden Juden verbrannt, als sichtbares Zeichen für die Allmacht und Größe des barmherzigen Gottes, vor allem aber zur Warnung all jener, die bereit waren, ihren Glaubensbrüdern in den Tod zu folgen. Denn kein Jude, dessen Leichnam verbrannt wird, wird der Auferstehung der Toten beim Kommen des Messias teilhaftig sein.
    Nicht eher sollte das Gemetzel enden, als bis die Sonne im Meer versank und schwarze Nacht sich über die Praca do Rossio senkte. Dann endlich tauchten die Soldaten ihre Schwerter in die Eimer und Kübel mit geweihtem Wasser, um die Klingen vom Blut der Opfer zu reinigen, und steckten sie zurück in die Scheiden. Und wahrlich, am Abend dieses Tages gab es keinen Juden mehr in der Stadt Lissabon. Den Getauften aber, die das Massaker überlebten, wurden christliche Namen gegeben, damit der dreifaltige Gott sie in die Schar seiner Gläubigen aufnehmen konnte und sie fortan in der Gnade Jesu Christi lebten, als fromme Katholiken.
     

3
     
    »Von diesem Tag an, dem Pessachfest des Jahres 1497, sollte unser Leben nie wieder so sein wie zuvor. Kein Jude im Land durfte sich mehr zu seinem Glauben bekennen.«
    Das erklärte Philippa, das Mädchen von einst und nun selbst Mutter der zwölfjährigen Gracia - fünfundzwanzig Jahre nach der gewaltsamen Taufe der zwanzigtausend auf der Praca do Rossio. »Nie darfst du vergessen, was damals geschah.« Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter zwischen die Hände und blickte sie an. »Hörst du, mein Kind? Niemals!«
    Eine lange Weile blieb Gracia stumm, aufgewühlt vom Bericht ihrer Mutter. Endlich hatte sie das Geheimnis erfahren, das Geheimnis ihres Volkes.
    Draußen schlug die Glocke von Santa Justa zur achten Abendstunde. Längst war die Sonne hinter dem Dach der Kirche untergegangen. Wie ein graues Tuch senkte sich die Dämmerung über die Stadt.
    »Warum hast du mir nie davon erzählt?«, fragte Gracia schließlich.
    »Dein Vater wollte es nicht. Er glaubt, es würde dir schaden. Aber ich meine, du hast das Recht, die Wahrheit zu
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