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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin
Autoren: Peter Prange
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wissen. Und heute ist der richtige Tag, um alles zu erfahren.«
    Obwohl Gracias Wangen noch nass waren von den Tränen, die sie beim Bericht ihrer Mutter vergossen hatte, füllte ihre Seele sich mit Stolz. Morgen war der erste Sabbat nach Vollendung ihres zwölften Lebensjahres. Damit galt sie als erwachsene Frau, in der Gemeinde und vor Gott.
    »Zeit fürs Abendbrot.« Ihre Mutter erhob sich von der Erkerbank, auf der sie gesessen hatten, und ging in den angrenzenden Küchenraum, um das Feuer zu schüren. »Gleich kommt dein Vater aus dem Kontor. Du kannst schon mal den Tisch decken.« Doch Gracia rührte sich nicht. So viele Fragen bedrängten ihre Seele, Dinge, die sie nicht verstand. Warum hatten die Juden sich nicht zur Wehr gesetzt? Sie waren zwanzigtausend gewesen, viel mehr als ihre Peiniger, die Edomiter ... Wer war der Morgenländer gewesen, der zu den Juden gesprochen hatte? Hatte er den Sabbaton mit eigenen Augen gesehen, jenen Fluss, dessen Fluten nur an den Werktagen strömten, am Sabbat jedoch stille standen? Gracia sah das Bild von dem paradiesischen Garten so deutlich vor sich, dass sie den Duft der Orangen und Pinien und Datteln zu riechen glaubte ... Aber gab es diesen Garten Eden wirklich? Und wer sollte die neue Esther sein? Ihre Mutter zündete die Kerzen auf einem Leuchter an. Der flackernde Schein brach sich in den glänzenden Kacheln an den Wänden. Sie öffnete den Geschirrschrank, um einen Stapel Essbretter daraus hervorzuholen. »Willst du mir nicht helfen?«
    »Sofort«, antwortete Gracia. »Aber vorher musst du mir noch etwas sagen.« Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Was für eine Taube bin ich?« »Ist das das Einzige, wonach du fragst?«
    »Ich will wissen, was ich bin. Eine Jüdin oder Christin? Ich bin doch getauft, genau wie du. Kann ich trotzdem eine weiße Taube sein?«
    Ihre Mutter stellte die Essbretter auf den Tisch und gab ihr einen Kuss. »Gott straft keinen Menschen für einen Glauben, der ihm aufgezwungen wurde. Sie haben uns zwar mit ihrem Wasser getauft, aber nur unsere Körper wurden Christen. Unsere Seelen sind jüdisch geblieben.«
    Gracia schüttelte den Kopf. »Weshalb musste Großvater dann sterben? Wie konnte Gott das zulassen? Großvater war doch bereit, alles zu tun, um dem Willen des Haschern zu folgen. Wie Abraham, als Gott von ihm verlangte, seinen Sohn zu opfern.« Mit einem Seufzer hob ihre Mutter die Arme. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Vielleicht war es ein Zeichen, dass Gott uns nicht verlassen hatte. Wen Gott straft, den liebt er.« Die Antwort konnte Gracia begreifen - alle Juden dachten so.
    Aber wenn ihre Mutter so den Tod ihres Großvaters erklärte, wurde dadurch eine andere Frage nur umso dringlicher. »Und warum habt ihr zwei dann überlebt, Großmutter und du?«, fragte sie leise.
    Ihre Mutter versuchte nicht, ihre Ratlosigkeit zu verbergen. »Auch das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, es war Gottes Fügung. Allein seiner Gnade verdanken wir unser Leben.« »Aber wozu?«, wollte Gracia wissen. »Wenn so viele Juden sterben mussten, um Gott zu gefallen - wäre es da nicht besser gewesen, mit ihnen zu sterben? Ich glaube, wenn Königin Esther bei euch gewesen wäre, sie wäre wie Großvater in den Tod gegangen.«
    Eine lange Weile dachte ihre Mutter nach, bevor sie eine Antwort gab. Doch als sie endlich zu sprechen anfing, sog Gracia jedes Wort, jede Silbe mit ihrem Herzen auf, um es für immer darin zu bewahren. Als würde sie ahnen, dass sich durch diese Antwort ihr ganzes künftiges Leben entscheiden sollte - ihr eigenes Leben und das Leben Tausender und Abertausender jüdischer Männer und Frauen und Kinder.
    »Bist du dir wirklich so sicher?«, erwiderte ihre Mutter. »Du und ich - wir stammen von König David ab, wir sind mit Königin Esther verwandt. Vielleicht hat Gott uns darum auserwählt, am Leben zu bleiben. Irgendjemand musste doch überleben, damit die Prophezeiung sich erfüllt, irgendwann, die Prophezeiung vom Gelobten Land ...«
     

Erstes Buch
Die Nidda Lissabon, 1528-1536
1
    Ein azurblauer Himmel spannte sich über den Burgberg von Lissabon, auf dessen Rücken sich majestätisch das Castelo de Sao Jorge erhob, seit Jahrhunderten Sitz der portugiesischen Könige. Schneeweiße Häuser säumten im Schatten der Burg die schwindelerregend steilen Treppenstraßen, die von den Quartieren der Oberstadt hinunter zur Alfama führten, dem ältesten Viertel der Baixa mit seinem unüberschaubaren Gewirr verwinkelter
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