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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin
Autoren: Peter Prange
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Augen trank er aus einem Wasserschlauch, während seine Frau Judith gierig ihre Zähne in ein Stück Brot hieb.
    Philippa war verzweifelt. Was sollte sie tun? Sollte sie ihrem Vater den Gehorsam verweigern? Oder sollte sie hier verdursten und verhungern?
    Da ertönte in ihrem Rücken eine hohe Stimme. »Schma Jisrael!«
    Ein Jude hatte sich aus dem Staub erhoben, ein dunkelhäutiger Morgenländer, den Philippa noch nie gesehen hatte. Der kleinwüchsige Mensch war vom Fasten mager wie ein Skelett. Doch seine Stimme klang so hell und rein wie die eines Sängers. »Schma Jisrael!«, rief er noch einmal. »Höre, Volk Israel! Im Traum sind mir drei Tauben erschienen. Eine weiße, eine grüne und eine schwarze. Wollt ihr wissen, was sie bedeuten?« Wie ein Gesang verhallten die Worte in der flirrenden Luft. Die Menschen auf dem Platz hoben murmelnd die Köpfe. »Ich will es euch sagen«, fuhr der Orientale fort, »die weiße Taube - das sind die treu gebliebenen Juden. Die grüne Taube - das sind die Juden, die im Herzen schwanken. Die schwarze Taube aber - das sind die Juden, die sich vom Glauben ihrer Väter abgewandt haben.«
    Er machte eine Pause. Philippa lief ein Schauer über den Rücken. »Hoch am Himmel zogen die drei Tauben ihre Bahn. Doch gleich traten mächtige Schützen auf, mit Pfeil und Bogen, und streckten sie alle drei zu Boden.«
    Ein Klagelaut aus Hunderten von Seelen antwortete dem Orientalen. Der hob seine Arme.
    »Aber ich habe noch mehr gesehen. Zwei Berge habe ich gesehen und eine Königin in einem Gewand so weiß wie Schnee. Der eine Berg war Edom, das Reich der Christen, der andere Berg war Israel, das Reich der Juden. Die Königin aber war Esther. Sie hielt eine Schriftrolle in der Hand, in welcher das Schicksal der beiden Reiche aufgezeichnet war.«
    Ein Jude nach dem anderen erhob sich aus dem Staub. Auch Philippa stand auf, um den Morgenländer besser zu hören. »Schma Jisrael! Siebzig Wochen Strafe sind über das Volk Israel verhängt, zur Verbüßung seiner Schuld, so wurde mir offenbart. Dann wird dem Frevel ein Ende gemacht, und die Sünde ist abgetan, und der Messias wird kommen, um die Edomiter zu vernichten. Eine Wasserflut wird sich über ihr Reich ergießen, und der Berg Edom wird in einem gewaltigen Beben der Erde zerbersten. Das Volk Israel aber wird sich erheben, und die weiße Taube wird sich wieder zum Himmel aufschwingen, und die grüne Taube wird die weiße Farbe annehmen.«
    Wie einem Erlöser lauschte Philippa dem Mann, zusammen mit den anderen Juden. Die Worte perlten von seinen Lippen auf sie herab wie Regentropfen in der Dürre, wie Manna in der Wüste. So musste es gewesen sein, als Moses vom Berg Sinai gekommen war, um zu seinem Volk Israel zu sprechen. »Und noch mehr hat mir Esther im Traum geweissagt. Eine Königin wie sie, eine zweite Esther, wird aus eurer Mitte geboren, um euch aus Unterdrückung und Not zu führen, zurück in eure Heimat, zurück zum Ursprung unseres Volkes.« Ein Gurren erfüllte die Luft, und der Orientale zeigte in die Höhe. Alle Augenpaare folgten seinem Finger. »Sehet die Tauben am Himmel! Sie werden euch den Weg weisen, den Weg ins Gelobte Land. Dorthin werdet ihr fahren auf den Schiffen eurer Peiniger, in das Land, in dem die Nachkommen Moses' noch heute leben wie zu unserer Urväter Zeiten, in Erfüllung der heiligen Gebote. Unter sie sollt ihr euch mischen, unter Gottes wahre Kinder, an den Ufern des Flusses Sabbaton, dessen Fluten nur an den Werktagen strömen, am siebten Tage aber stillstehen, während die Mosessöhne ihre Gebete verrichten, um den Sabbat zu heiligen. Dort wird sich euch, am Ende eurer Reise, der Garten Eden auftun, und ihr werdet den Duft von Dattelpalmen und Orangenbäumen und Pinienhainen atmen. Dann wird ewige Gerechtigkeit herrschen, und das Reich des Messias wird sich ausbreiten bis ans Ende der Welt, und alle Völker der Erde werden seine Regierung annehmen und den Gott Israels als den einzigen wahren und Frieden spendenden Gott anerkennen.«
    Als der Morgenländer verstummte, war es, als hielte Gott selbst den Atem an. Kein Laut, kein Hauch regte sich auf dem Platz. Philippa blickte zu ihrem Vater. Die Hände zum Himmel erhoben, murmelte er ein Gebet, die vor Glück nassen Augen auf den Orientalen gerichtet. »Ist das der Messias?«, fragte Philippa.
    Noch bevor ihr Vater antworten konnte, gellte ein Ruf über den Platz.
    »Misericordia!«
    Philippa fuhr herum. Der Dominikaner hatte den Ruf ausgestoßen, und
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