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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin
Autoren: Peter Prange
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rechte Hand verdorren.«
    »Masel tov!«, rief die Gemeinde. »Glück und Segen!«
    Als José den Kelch hob, schloss Gracia die Augen. Mit lautem Knall traf das Glas auf die Wand. Doch erst als der Applaus der Gäste losbrach, hob Gracia wieder den Blick.
    Roter Wein rann an dem Davidstern herab, und auf dem Boden lagen tausend Scherben.
     

3
     
    Leise wehte die Musik über das Land, Klänge von Pfeifen, Zimbeln und Trommeln, die sich in der Weite der Wüste verloren, zusammen mit dem Abendwind.
    Während die übrigen Hochzeitsgäste noch mit dem Brautpaar feierten, hatte Gracia das Fest ihrer Tochter verlassen, um diesen Tag in Gedanken mit ihrem Mann zu beschließen. Sie hatte noch den Anfang des Mitzwa-Tanzes abgewartet und war dann aufgebrochen, um Franciscos Grab aufzusuchen, das auf einer Anhöhe über dem Jehoschafat-Tal lag, im Schatten eines Olivenhains. Ja, sie hatte ihr Versprechen erfüllt und Franciscos Leichnam aus Portugal nach Palästina gebracht, um ihn hier zu begraben, in heiligem Boden, wo seit biblischen Zeiten die Töchter und Söhne Moses' beigesetzt wurden. In dieser Erde die ewige Ruhe zu finden, Seite an Seite mit seinen Vätern, war Franciscos letzter Wunsch gewesen, zur Tilgung seiner Schuld - der Schuld, ein Leben lang in der Glaubensfremde gelebt zu haben, fern der Heimat seines Volkes Israel.
    Gracia strich eine Strähne, die sich aus ihrem Haar gelöst hatte, mit der Hand zurück unter das Tuch, das ihren Kopf bedeckte. Und ihre Schuld? Würde die je vor Gott getilgt werden? Fröstelnd schlug sie ihren Schal um die Schulter und schaute über das Tal.
    Dies war das Land, aus dem ihre Vorfahren stammten, seit König Davids Zeiten. Längst war die Sonne über dem See Genezareth untergegangen, dort, wo der Jordan in die riesige Wasserfläche mündete. Wie ein grauer, fahler Krake kroch nun die Dämmerung vom See ans Ufer und breitete sich zwischen den Hügeln aus, um die ganze Ebene in Besitz zu nehmen. Noch war alles wüstes Land, so weit das Auge reichte, und die Stadt, in der einst die größten jüdischen Gelehrten gelebt hatten, ein einziges Trümmerfeld. Doch die wenigen, weitverstreuten Hütten und Häuser waren wieder von einer Mauer umgeben. Die Siedler hatten sie bei ihrer Ankunft errichtet, um sich gegen die Nomaden zu schützen, die in der Wüste lebten. Fast täglich kamen weitere jüdische Einwanderer an, aus Portugal, aus Spanien, aus Italien - aus allen Ländern der Welt, auf der Flucht vor ihren Verfolgern, um sich hier anzusiedeln und im Schweiße ihres Angesichts den Boden urbar zu machen. Schon gab es erste Felder, die Früchte trugen, Pinienbäume, Dattelpalmen und Orangenhaine wuchsen am Ufer des Flusses, der das Tal in zwei Hälften schied. Überall begann es in der Ödnis zu sprießen und zu blühen. Irgendwann würde das wüste Land ein neuer Garten Eden sein, in dem die Zeit des Messias anbrach. Ein Gurren weckte Gracia aus ihren Gedanken. Als sie in die Höhe schaute, sah sie über sich einen Schwärm Tauben. Von welcher Farbe war ihr Gefieder? Gracia konnte es nicht erkennen. In der Dämmerung des Abends sahen sie alle grau aus. »Seid Ihr endlich angekommen?«
    Als Gracia die vertraute Stimme hörte, drehte sie sich um. Vor ihr stand Amatus Lusitanus.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht«, sagte sie. »Dass ich hier bin, habe ich Reyna zu verdanken. Ohne sie wäre ich nirgendwo angekommen.«
    Amatus Lusitanus nickte. Er wusste, was sie meinte. Reyna hatte José gedrängt, das Recht über dieses Land von Selim zu erbitten, als Hochzeitsgeschenk des Prinzen, damit Gracias Mission sich erfülle.
    »Ich danke Euch«, sagte sie.
    Amatus runzelte die Brauen. »Ihr dankt mir?«, fragte er. »Wofür?«
    »Dass Ihr Reyna begleitet habt, als sie mich verließ, um bei José zu sein.«
    Mit einem Lächeln erwiderte Amatus ihren Blick. »Die Liebe ist stärker als der Hass«, sagte er. »Vielleicht sogar stärker als der Glaube.«
    Gracia sah ihrem Freund ins Gesicht. Ahnte er die fürchterliche Wahrheit, die sie so lange vor sich selbst verborgen hatte? Sie hatte für ihren Glauben alles geopfert, was sie auf Erden liebte. Doch je mehr sie die Liebe in ihrer Seele unterdrückt hatte, um dem Gesetz des Glaubens zu gehorchen, umso mehr hatte sie sich von Gott entfernt und Gott sich von ihr. »Mein größter Fehler war vielleicht«, flüsterte sie, »dass ich der Liebe nie vertraut habe. Ich hatte Angst, ihr zu folgen. Jetzt bin ich eine alte Frau, jetzt bleibt mir nur noch
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