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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
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Zeiten, Allerheiligen, Frauentag, dem Bedürfnis nach einem Nickerchen, dem Drang, eine Mauer festzuhalten oder gegen eine Wand zu pissen. Es erforderte einige Anstrengung, als rechtmäßig betrunken aufzufallen, denn die Messlatte lag sehr hoch. Aber die Konsequenzen konnten schrecklich sein. Die Geldbuße war unbedeutend, doch man würde Verwandte und Kollegen informieren - und in Viktors Fall wäre das der Kommandant, der bereits angedroht hatte, ihn um einen Rang zu degradieren. Und was noch schlimmer war: Wiederholungstäter mussten für zwei Wochen ins Gefängnis. Polizisten erging es im Gefängnis nicht gut.
    Die Ziffern der Digitaluhr an der Wand klappten auf 24 Uhr. Mitternacht. Viktor hätte vor vier Stunden zum Dienst erscheinen müssen. Im matt beleuchteten Aufwachraum sammelte Arkadi Viktors Kleider ein. Er ging zwischen Betten mit sedierten Männern hindurch, umweht von dem Geruch uringetränkter Laken. Alle lagen reglos da; nur einer sträubte sich gegen die Gurte, mit denen er auf das Bett geschnallt war, und flüsterte Arkadi eindringlich zu: »Ich bin Gott, Gott ist Scheiße, ich bin Scheiße, Gott ist Scheiße, Gott ist ein Hund, ich bin Gott«, und immer so weiter.
    »Wissen Sie, wir kriegen hier alle Sorten«, sagte der Sanitäter. Er hielt Viktors Ausweis, Schlüssel, Handy und Dienstwaffe bereit, als Arkadi zu seinem Tisch zurückkam.
    Sie trockneten Viktor ab und zogen ihn an, wobei sie mühsam verhinderten, dass er in sich zusammensackte.
    »Er ist noch nicht registriert, oder?« Arkadi wollte sich nur vergewissern.
    »Er war gar nicht hier.«
    Arkadi legte fünfzig Dollar auf den Tisch und bugsierte Viktor zum Ausgang.
    »Ich bin Gott!«, sagte die Stimme aus dem Bett. Gott ist betrunken, dachte Arkadi.
     
    Arkadi fuhr Viktors Lada, da sein Schiguli in der Werkstatt auf ein neues Getriebe wartete und man Viktor wegen Trunkenheit am Steuer den Führerschein abgenommen hatte. Obwohl Viktor gewaschen worden war und frische Kleider bekommen hatte, ging ein Wodkageruch von ihm aus wie Hitze von einem Ofen. Arkadi drehte das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen. Die kurzen Nächte des Sommers hatten begonnen, nicht vergleichbar mit den Weißen Nächten von Sankt Petersburg, aber sie machten doch das Schlafen schwer und belasteten Beziehungen. Der Polizeifunk quakte unaufhörlich.
    Arkadi reichte Viktor das Funkgerät. »Melde dich, damit Petrowka weiß, dass du im Dienst bist.«
    Petrowka war die Kurzbezeichnung für das Hauptquartier der Miliz in der Petrowka-Straße.
    »Wen interessiert das? Ich bin im Arsch.«
    Aber Viktor nahm sich zusammen und rief die Zentrale. Wundersamerweise war den ganzen Abend über niemand in seinem Bezirk ermordet, vergewaltigt oder überfallen worden.
    »Weicheier. Habe ich meine Pistole?« »Ja. Wir wollen doch nicht, dass die in die falschen Hände gerät.«
    Arkadi hatte das Gefühl, Viktor nicke ein, doch der Leutnant murmelte: »Das Leben wäre wunderbar ohne Wodka, aber weil die Welt nicht wunderbar ist, braucht der Mensch den Wodka. Der Wodka ist in unserer DNA. Das ist eine Tatsache. Das Dumme ist, die Russen sind Perfektionisten. Das ist unser Fluch. Unser Land bringt große Schachspieler und Ballerinen hervor und macht uns Übrige zu eifersüchtigen Säufern. Die Frage ist nicht, warum ich nicht weniger trinke. Die Frage ist: Warum trinkst du nicht mehr?«
    »Gern geschehen.«
    »Das meinte ich ja. Danke.«
    Andere Autos, aufgemotzte ausländische Monster, kamen brüllend hinter ihnen heran. Aber sie klebten nicht lange an ihrer Stoßstange. Auspuff und Schalldämpfer des Lada hingen dicht über dem Asphalt; gelegentlich zog der Wagen einen Funkenschweif hinter sich her, und das war eine wirksame Mahnung, sicheren Abstand zu halten.
    Der Lada war ein Wrack, doch das waren die Männer darin auch, dachte Arkadi. Im Rückspiegel warf er einen flüchtigen Blick auf sich. Wer war dieser ergrauende Fremde, der aus seinem Bett aufstand, sich seiner Kleider bemächtigte und seinen Stuhl im Büro des Staatsanwalts besetzte?
    »Ich habe in der Zeitung von zwei Delphinen gelesen, die versucht haben, einen Mann zu ertränken«, sagte Viktor. »In Griechenland oder so. Man hört ja immer, dass edle Delphine jemanden vor dem Ertrinken gerettet haben. Aber diesmal nicht. Sie haben ihn ins offene Meer hinausgedrängt. Ich habe mich gefragt, was an diesem armen Schwein anders war. Wie sich rausstellte, war es natürlich ein Russe, und vielleicht war er ein
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