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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
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Zahnbürste, Papiertücher, Pfefferspray und ein offenes Aspirin-Röhrchen, aus dem gelbes Pulver gerieselt war. Einen Ausweis sah Arkadi nicht.
    Kol stellte sich in der Tür des Bauwagens auf. Zwischen den Drei Bahnhöfen herrschte ein reger Handel mit Haschisch und Heroin, und die Beziehungen zwischen Miliz und Bahnpolizei waren so etwas wie ein Waffenstillstand zwischen Dieben, die einander misstrauisch beäugten.
    »Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Viktor.
    »Das weiß ich nicht«, sagte der Hauptmann. »Wir haben einen Anruf von einem Passanten bekommen.«
    »Wie viele gibt's davon?«
    »Leute, die an einem durchschnittlichen Tag hier vorbeikommen? Ungefähr eine Million. Da kann ich mich nicht an jedes Gesicht erinnern.«
    »Erinnern Sie sich denn an sie?«
    »Nein. An dieses Tattoo würde ich mich erinnern.« Kol konnte den Blick nicht davon losreißen.
    »Wer hat den Wagen hier abgestellt?«, fragte Arkadi. »Woher soll ich das wissen?« »Hübsches Messer.« »Scharf genug ist es.«
    Abgesehen von der Tatsache, dass die Frau tot war, schien sie bei guter Gesundheit zu sein. Arkadi sah keine auffälligen Schnittwunden oder Blutergüsse. Aufgrund der Körpertemperatur, des Muskeltonus und der fehlenden Leichenflecken - der violetten Streifen, wo sich das Blut in den unten liegenden Körperpartien sammelte - vermutete er, dass sie nicht länger als zwei Stunden tot war. Er richtete den Strahl einer Minitaschenlampe auf ihre Augen, deren blaue Iris erschlafft war, und sah keine Einblutung in der Netzhaut oder sonst einen Hinweis auf ein Schädeltrauma. Keine gerötete Nase, keine wunden Wangen, keine Nadelstiche. Unterarme und Hände wiesen keine Abwehrverletzungen auf, die Fingerknöchel waren nicht aufgeschürft, und unter den schmutzigen Nägeln waren keine Hautfetzen. Es sah aus, als sei sie im Schlaf gestorben.
    Viktor erwachte zum Leben. Ein Mord wirkte immer so auf ihn. Die kriminaltechnische Untersuchung würde ihm Fotos liefern, die er unter den Huren, Kioskverkäufern und anderen Bewohnern der Nacht verteilen könnte. Arkadi spazierte um den Wagen herum und suchte nach Kleidungsstücken, die vielleicht zu Boden gefallen waren, aber das Licht der wenigen Straßenlaternen hier am hinteren Ende des Platzes war so matt, dass es war, als wate er durch trübes Wasser. Der Wohnblock gegenüber dem Jaroslawler Bahnhof hätte ebenso gut auf einem anderen Planeten stehen können. Sogar die Prostituierten mieden manche Ecken hier.
    Natürlich gab es auch unter Prostituierten solche und solche. Die exotischen Schönheiten in teuren Clubs wie dem »Night Flight« oder dem »Nijinski« verlangten tausend Dollar für eine Nacht, die an der Bar im Savoy Hotel siebenhundertfünfzig. Ein Zimmerbesuch im National Hotel kostete dreihundert Dollar, und eine thailändische Masseuse nahm hundertfünfzig für die Nacht. Auf dem Lubjanka-Platz bekam man Oralsex für zehn Dollar, bei den Drei Bahnhöfen für fünf. Es war ein Wunder, dass der Hauptmann sie nicht mit der Schaufel hatte zusammenkratzen müssen.
    Viktor nahm einen Anruf am Autotelefon entgegen, aber er sagte nur: »Ja ... ja ... ja ...«, bevor er schließlich auflegte. »Petrowka will wissen, was ich habe. Mord, Selbstmord, Unfall, Überdosis oder eine natürliche Todesursache? Wenn kein Hinweis auf ein Verbrechen vorliegt, soll ich weiterfahren. Der Krankenwagen kommt, wenn er kommt. Irgendein Oligarch hat seinen kleinen Hund in einer Parkgarage verloren. Petrowka sagt, ich soll hinfahren und auf Händen und Knien nach dem kleinen Köter suchen. Wenn ich ihn als Erster finde, drehe ich ihm den pelzigen Hals um.«
    »Du würdest gehen, bevor die Spurensicherung kommt?«
    »Wenn die Frau durch Unfall oder eine natürliche Ursache gestorben ist, kommt weder die Spurensicherung, noch gibt es eine Autopsie. Sie werden sie einfach abholen, und wenn nach einer Woche niemand Anspruch auf sie erhoben hat, wandert sie in den Anatomiesaal oder ins Krematorium.« Blinzelnd konzentrierte sich Viktor auf einen Gedanken. »Ich weiß nur, dass sie es mit einem Perversen zu tun hatte. Kein Mensch lässt eine Flasche mit einem halben Liter gutem Wodka offen herumstehen.«
    »Das soll heißen ...?«
    »Dass er sich eine neue Flasche leisten konnte. Er hatte Geld.«
    »Und dieses reiche Individuum interessiert sich für Sex auf einer dreckigen Matratze in einem Bauwagen?«
    »Besser als auf der Straße. Und dann ist da dieses Schmetterlingstattoo. Das ist auf jeden Fall ein
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