Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
Drei Bahnhöfe. Drei Eisenbahnstationen lagen an diesem Platz, dazu stießen hier zwei Metro-Linien aufeinander, und der Autoverkehr verlief zehnspurig. Die Fahrgäste drängten sich wie ungeordnete Armeen zwischen Straßenhändlern hindurch, die Blumen, bestickte Hemden, T-Shirts mit Putin, T-Shirts mit Che Guevara, CDs, DVDs, Pelzmützen, Poster, Schachtelpuppen, Kriegsorden und Sowjetkitsch verkauften.
    Tagsüber herrschte an den Drei Bahnhöfen ein reger Verkehr, ein Circus Maximus der Autos. Aber nachts, wenn die Massen verschwunden waren und Insekten wie Schleier im Flutlicht schwebten, wirkten die Bahnhöfe auf Arkadi so exotisch wie die Kulissen für drei verschiedene Opern. Der Leningrader Bahnhof war ein venezianischer Palast, der Kasaner Bahnhof eine orientalische Moschee, und der Jaroslawler Bahnhof war ein Clownsgesicht mit Hütchen. In der Nacht kam eine Bevölkerung zum Vorschein, die im Getriebe des Tages verborgen geblieben war: Taschendiebe, modische Jungs, die Handzettel für Striptease-Clubs und Spielhallen verteilten, Banden von Straßenkindern auf der Jagd nach Verwundeten, Langsamen, nach leichter Beute. Männer mit unbestimmten Absichten standen in kleinen Gruppen zusammen, beobachteten mit Bierflaschen in der Hand die Prostituierten, die sich vorüberschoben - Frauen mit Raubtierblick, die aussahen, als würden sie ihre Kunden gleich fressen, statt nur mit ihnen zu schlafen.
    Überall waren Betrunkene, aber man sah sie kaum, denn sie waren so grau wie das Pflaster, auf dem sie lagen. Sie trugen Verbände, waren blutig oder humpelten auf Krücken wie Kriegsopfer. Jeder Hauseingang hatte einen oder zwei Bewohner. Sie mochten obdachlos sein, doch die Drei Bahnhöfe waren ihr Zuhause. Ein Bettler mit breiten Schultern und verschrumpelten Beinen schob seinen Einkaufswagen an einer Zigeunerin vorbei, die geistesabwesend ihre Brust entblößte und ihr Baby anlegte. Bei den Drei Bahnhöfen versammelten sich die verkrüppelten, ausgestoßenen und tagsüber versteckten Mitglieder der Gesellschaft wie am »Hof der Wunder« - aber Wunder gab es hier nicht.
    Arkadi fuhr am Jaroslawler Bahnhof auf den Bordstein und rollte über einen kleinen Platz bis zu einem Bauwagen, der schon so lange hier stand, dass die Reifen platt waren.
    »Möchtest du im Auto bleiben?«, fragte er Viktor. »Ich kann dich vertreten.«
    »Die Pflicht ruft. Vielleicht pisst jemand auf meinen Tatort. Wer auf den Tatort eines Mannes pisst, pisst auf den Mann selbst.«
    Bauwagen boten eine primitive Unterkunft am Arbeitsplatz: vier Kojen, ein Ofen, aber keine Toilette, keine Dusche, kein Strom. Meist waren es Wanderarbeiter aus Zentralasien, die darin wohnten. Tadschiken, Usbeken, Kirgisen, Kasachen. Sie schmorten im Sommer und froren im Winter, und als menschliche Behausung waren die Wagen von außen nur an einem Schiebefenster und einer Tür zu erkennen. Eigentlich sahen sie aus wie Grüften aus Stahl.
    Ein Hauptmann der Bahnpolizei namens Kol ließ Viktor und Arkadi durch die Absperrung. Er schnitt eine rohe Zwiebel in Scheiben und aß sie als Mittel gegen seine Sommergrippe.
    »Eine Menge Aufwand wegen einer toten Nutte«, sagte er und wischte sich die Tränen aus den Augen.
    Ein Verlängerungskabel führte durch ein Fenster zu einem Haken unter der Decke des Wagens, wo eine nackte Glühbirne ihr wässriges Licht verströmte. Der hintere Teil des Wagens glich dem Boden einer Mülltonne. Er war übersät von Hamburger-Schachteln, leeren Coladosen und Glasscherben, und auf der schmutzigen Matratze der unteren Koje lag eine Frau mit seitwärts gewandtem Gesicht und offenen Augen. Arkadi schätzte ihr Alter auf achtzehn oder neunzehn Jahre. Sie war hellhäutig, hatte hellblaue Augen und weiches, braunes Haar. Sie trug eine billige, mit synthetischem Pelz gefütterte Steppjacke. Ein Arm war erhoben, als proste sie jemandem zu. Der andere klemmte unter ihrer Taille.
    Von den Hüften abwärts war sie nackt; ihre Beine lagen überkreuz, und vorn auf ihre linke Hüfte war ein Schmetterling tätowiert, ein beliebtes Motiv bei Prostituierten. Eine halb leere Literflasche Wodka stand auf dem Boden neben einem Jeansrock, einer Unterhose und glänzenden hochhackigen Stiefeln. Arkadi hätte die Frau zugedeckt, aber bevor die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte, durfte man nichts berühren.
    Auf der Matratze verstreut lagen eine schwarze Lacklederhandtasche, ein Lippenstift, Rouge, eine Haarbürste, eine Intimdusche, Zahnpasta und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher