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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
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sie es in den Korb legen konnte, öffnete sich die Schiebetür wieder. Eine Gestalt in Grau kam heraus, packte den Soldaten mit dem Griff eines Schlachters bei den Haaren und hielt ihm ein Messer an die Kehle. Es war die Babuschka, die neben dem krümelnden Popen gesessen hatte. Die alte Frau drohte dem Soldaten, sie werde ihn kastrieren, wenn sie ihn das nächste Mal sähe, und zum Beweis ihrer Ernsthaftigkeit verpasste sie ihm einen wütenden Tritt. Der Soldat machte, dass er im nächsten Wagen verschwand.
    Als Maja mit ihrem Baby in die Koje zurückgekehrt war, brachte die Babuschka ihr Tee aus dem Samowar und hielt dann Wache bei ihnen. Sie hieß Helena Iwanowa, aber alle auf dieser Strecke, sagte sie, nannten sie nur Tante Lena.
    Erschöpft gestattete Maja sich schließlich, richtig einzuschlafen, und sie versank in der Dunkelheit, die Vergessen versprach.
     
    Als sie die Augen wieder öffnete, flutete das Sonnenlicht in den Wagen. Der Zug stand an einem Bahnsteig, und das beherrschende Geräusch war das Summen der Fliegen in der Luft. Majas Brüste waren so voll, dass sie schmerzten. Nach ihrer Armbanduhr war es fünf nach sieben. Der Zug hatte um sechs Uhr dreißig ankommen sollen. Von Tante Lena war nichts zu sehen, und die beiden Körbe waren verschwunden.
    Maja stand auf und ging auf unsicheren Beinen durch den Gang. Alle anderen Fahrgäste - die lärmenden Ölarbeiter, die Studenten, der Zigeuner und der Pope - waren verschwunden. Tante Lena war verschwunden. Maja war der einzige Mensch im Zug.
    Sie trat auf den Bahnsteig hinunter und kämpfte sich durch das Gedränge vor dem Frühzug auf der anderen Seite. Die Leute starrten sie an. Ein Träger stieß mit seinem Gepäckkarren an ihr Schienbein. Die Fahrkartenkontrolleure an der Sperre erinnerten sich an niemanden, der aussah wie Tante Lena und das Baby. Eine absurde Frage von einem lächerlich aussehenden Mädchen. Auf dem Bahnsteig verabschiedeten sich Leute voneinander, und hunderte andere wimmelten zwischen den Kiosken und Läden, wo man Zigaretten, CDs und Pizza-Ecken kaufen konnte. Noch einmal tausend saßen im Dunst eines Wartesaals. Manche würden in die Wildnis Sibiriens reisen, andere bis an den Pazifik, und wieder andere warteten nur.
    Aber das Baby war verschwunden.
     

ZWEI
    Viktor Orlow stand in einer Duschkabine. Er hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, und ein Sanitäter mit OP-Maske, Schutzbrille, Gummischürze und -handschuhen übergoss ihn mit einem Desinfektionsmittel, das Viktor von der Nase und aus dem Vier-Tage-Bart tropfte, über seinen eingefallenen Bauch und den nackten Arsch rann und sich zwischen seinen Füßen zu einer Pfütze sammelte. Er sah aus wie ein nasser, zitternder Affe mit schütterer Körperbehaarung, schwärzlichen Blutergüssen und dick verhornten Zehennägeln.
    Der Sanitäter am Aufnahmetisch zündete eine Duftkerze an. »Als der Leutnant hereinkam, habe ich gleich angerufen. Ich war unentschlossen, aber dann dachte ich mir, du musst den leitenden Ermittler Renko anrufen. Er wird es erfahren wollen.«
    »Das haben Sie richtig gemacht«, sagte Arkadi.
    Der Sanitäter atmete ein. »Zitronengras.«
    »Penetrant«, sagte Arkadi. Eine passende Ergänzung zu Kotze, Pisse und Scheiße.
    »Wir tun, was wir können. Und - nimmt unser alter Freund Viktor irgendwas Neues, irgendwas außer Alkohol? Heroin, Methadon, Frostschutzmittel?«
    »Nur Alkohol. Er gehört noch zur alten Schule.«
    »Tja, das Desinfektionsmittel tötet Körperläuse, Bakterien, Mikroben, Pilze und Sporen. Das ist ein Bonus. Innerlich kann ich für Ihren Freund nichts tun. Sein Blutdruck ist niedrig, doch das war zu erwarten. Seine Pupillen sind geweitet, aber es gibt keinen Hinweis auf ein Schädeltrauma. Er entgiftet nur. Ich habe ihm Valium und eine Vitamin-B1-Spritze gegeben, um ihn zu beruhigen. Wir sollten ihn zur Beobachtung hierbehalten.« »In der Säuferzelle?«
    »Wir bevorzugen die Bezeichnung >Ausnüchterungsstation<.«
    »Nicht, wenn er gehen kann.« Arkadi hielt eine Plastiktüte mit sauberer Kleidung hoch.
    Der Sanitäter in der Duschkabine entrollte einen Schlauch und drehte den Strahl mit voller Kraft auf. Viktor taumelte einen Schritt zurück, als das Wasser auf seine Brust prasselte. Der Sanitäter ging um ihn herum und spitzte ihn von allen Seiten ab.
    Wegen Trunkenheit verhaftet zu werden war nicht so einfach. Trunkenheit war schwer zu unterscheiden von einem Fläschchen mit Freunden, von guten Zeiten, schlechten
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