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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile
Autoren: Martin Cruz Smith
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im Spiel. Wodka war ein treuer Begleiter aller menschlichen Unternehmungen - beim Verführen, beim Heiraten, beim Feiern und auf jeden Fall beim Morden.
    Manchmal erzählte ein Tatort eine dramatische Geschichte: ein Küchentisch mit so vielen Bier- und Wodkaflaschen, dass kaum noch Platz für ein Glas war, Messer auf dem Fußboden, eine verschmierte Blutspur, die durch den Flur zu zwei Leichen führte, die eine kreuz und quer von Stichwunden übersät, die andere von Kugeln durchsiebt. Im Vergleich dazu war dieser Bauwagen ein Stillleben aus Horizontalen: Nichts stand aufrecht außer der Flasche.
    Arkadi wusste, dass er etwas sehr Naheliegendes übersah, irgendeinen fundamentalen Widerspruch. Jetzt brauchte er seine Phantasie, aber alles, was ihm in den Sinn kam, war Viktors Geschichte über den merkwürdigen Schwimmer und die Delphine. Es war, als drängten ihn unsichtbare Delphine vom Land weg und auf das offene Meer hinaus.
    Er setzte sich dem Mädchen gegenüber auf die andere Koje. Sie hatte ein slawisches Gesicht, ovaler und seelenvoller als bei den Westeuropäerinnen, und in ihrem Haar mischten sich Aschgrau und Braun wie im Gefieder einer Taube. Ihre blauen Augen lenkten von der Obszönität ihrer Pose ab. Helle Streifen an ihren Fingern ließen erkennen, wo Ringe gesessen hatten, aber sie waren nicht gewaltsam abgezogen worden, denn an den Fingergelenken waren keine Abschürfungen zu sehen. Nirgends ließ sich eine Spur von Gewaltanwendung entdecken, weder neu noch alt. Vor die Wahl gestellt, wegen Mordes an einer Prostituierten zu ermitteln oder sie als »natürlichen Todesfall« abzuschreiben, würde Petrowka mit Vergnügen akzeptieren, dass eine junge Frau von anscheinend guter Gesundheit sich ausgezogen und sich zum Zweck des Geschlechtsverkehrs in einen Bauwagen gelegt hatte, um dann friedlich dahinzuscheiden. Finis.
    Arkadi fasste die Wodkaflasche am unteren Rand und am Verschluss und hob sie auf. Ein nasser Kringel blieb auf dem Boden zurück. Dann löste sich etwas von der Flasche und fiel vor Arkadis Füße. Er hob es auf: eine silberne Plastikkarte mit schwarzer Aufschrift »Ihr VIP-Pass für die Messe der Luxusgüter«. Auf der Rückseite stand neben einem Barcode: »30. Juni - 3. Juli, Club Nijinski. Besichtigung ab 20 Uhr.«
    Der 30. Juni hatte vor zwei Stunden begonnen. Arkadi trat ans Fenster. Unter den lichtscheuen Bewohnern der Drei Bahnhöfe einen Zeugen zu finden würde sich wahrscheinlich zu einer Farce entwickeln. Wer bemerkte auf diesem Platz eine Prostituierte, die ihrem Gewerbe nachging? Sein Blick wanderte zu dem Wohnblock auf der anderen Seite. Acht Stockwerke, und die meisten Wohnungen waren dunkel, aber bei manchen brannte Licht in der Küche, oder man sah an der Decke den hypnotisierenden Schimmer eines Fernsehers. Die Wagentür öffnete sich, und Viktor war wieder da, trübsinnig und triumphierend zugleich.
    »Du rätst es nie«, sagte er.
    »Dann überrasch mich«, sagte Arkadi.
    »Okay. Dieses Stromkabel geht von hier aus geradewegs zum Revier der Bahnpolizei. Ich habe unseren Freund, den Hauptmann, durch das Fenster gesehen. Er hat einen Verband an der Hand, so dick wie ein Boxhandschuh. Aber die Schnur endet dort nicht. Sie ist mit einem weiteren Verlängerungskabel verbunden, und das führt zu einer Steckdose an der Rückseite der Milizstation. Verstehst du? Die Zuhälter sind wir. Du siehst aber nicht überrascht aus.«
     

DREI
    Was Schenja betraf, hatte der Jaroslawler Bahnhof so gut wie alles zu bieten: Imbissbüfetts, eine Buchhandlung, eine Kinderecke und Läden, in denen man Zigaretten, CDs und DVDs kaufen konnte. Es gab eine Lounge für das Militär; Soldaten konnten im Urlaub kostenlos mit der Bahn fahren. Eine Rolltreppe führte in einen Wartesaal im oberen Stockwerk, wo ein Konzertflügel hinter einer roten Samtkordel stand. Schenja fing im Hauptgeschoss an und hielt Ausschau nach Leuten, die Lust auf ein freundschaftliches Schachspiel auf dem Klappbrett hatten, das er in seinem Rucksack verwahrte. Er war vorsichtig. Für den Fall, dass er angehalten wurde, hatte er immer seinen Ausweis und eine Wochenkarte bei sich, und obwohl er in seinem Kapuzen-Sweatshirt kaum zu erkennen war, blieb er nach Möglichkeit außerhalb des Gesichtsfelds der Kameras unter der Decke. Als er keinen potenziellen Gegner entdecken konnte, zog Schenja sich auf eine Bank in einem stillen Korridor abseits der oberen Halle zurück und studierte ein russisch-englisches Taschenwörterbuch.
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