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Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Titel: Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Autoren: Reinhard Griebner
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einnickten. Bei dieser Entdeckung wurde Konrad der Erste und Einzige ungeheuer wütend.
    „Diese Gesänge sind stinklangweilig!“ brüllte er die erschrocken aus dem Schlaf fahrenden Hofleute an und warf seine Krone auf den Fußboden, so daß beinahe ein Zacken herausbrach, sich jedoch glücklicherweise nur verbog. „Der Minister für Gesang ist abgesetzt! Zum neuen Gesangsminister ernenne ich den Minister für Glas- und Gebäudereinigung. Und für das Reinlichkeitsministerium ist augenblicklich.. . der Finanzminister zuständig!“
    „Und wer übernimmt die Finanzen?“ fragte der abgesetzte Minister für Gesang schüchtern.
    „Dumme Frage, natürlich du!“ Konrad nieste kräftig, holte geräuschvoll Luft und rief: „Das Gesetz ist veraltet. Ein Silberling ist heute zu gering. Bessere Lieder müssen her!“ Dann straffte sich Konrad, schneuzte sich und befahl: „Folgendes ist umgehend zu verkünden: Jeder, der einen neuen zündenden Gesang auf seinen König dichtet, wird zum Königlichen Hofsänger ernannt, und er soll fortan mit seinem Lied auf den Lippen auf Staatskosten...“ An dieser Stelle zuckte der Minister für Finanzen zusammen, „...auf Staatskosten das Land bereisen. Marktplätze, Straßen und Wirtsstuben müssen die fröhlichen Ruhmeshymnen hundertfach zurückgeben. - Jeder aber, der seinen Gesang so lieblich vorträgt, daß der König vom ersten bis zum letzten Ton munter bleibt, wird Königlicher Ober-Hofsänger und hat darüber hinaus einen Wunsch frei!“
    Flink beugte sich Konrad nach dieser Rede zum Finanzminister und flüsterte: „Dafür wird ab sofort eine Kulturabgabe kassiert, und zwar nennen wir die...“ „Musiksteuer!“
    Am selben Tag wurde die königliche Verordnung aufgeschrieben und von reitenden Boten in alle Winkel des Landes getragen. Und in derselben Nacht machten sich die berühmtesten Sänger ans Werk, wohlklingende und noch schmeichelhaftere Gesänge auf ihren obersten Herrn zu erfinden. So geschah es, daß in den folgenden Wochen unzählige Musikanten zum Schloß wanderten. Sie sangen mit ihren neuen Lobesarien den Herrscher in den Schlaf und wurden zu Königlichen Hofsängern ernannt. Niemand aber brachte ein Lied zustande, das den königlichen Mund am Gähnen und die königlichen Augenlider am Zufallen hätte hindern können.
    So verstrich die Zeit.
    Konrad der Erste und Einzige wurde immer mürrischer, was sich beispielsweise darin äußerte, daß er vor dem Sonntagskonzert nur noch zwei statt vier Brathähnchen verspeiste und einmal versehentlich sogar ein frisches Oberhemd überstreifte.
    Dem Minister für Gesang allerdings stand der Angstschweiß auf der Stirn. Er mußte unentwegt nach jungen Talenten Ausschau halten, die dem König ihr Loblied darbieten sollten. Und er hatte nach wie vor darüber zu wachen, daß alle Gesänge in Wort und Melodie den Wünschen des Landesvaters gerecht wurden. Somit war er der einzige Mann im Spiegelpalast, der jedes Lied doppelt hören mußte. Und um diese Bürde war er wirklich nicht zu beneiden.
    In einer kleinen Stadt am Rande des Königreiches wohnte der Schuhmacher Albrecht. Albrecht war ein langaufgeschossener Bursche, um dessen Nase sich Sommersprosse an Sommersprosse drängelte. Doch obwohl alle Nachbarn seinen Arbeitseifer und sein Geschick lobten und ihn reichlich mit reparaturbedürftigem Schuhwerk versorgten, besaß Albrecht kaum einen Kupfergroschen. Den größten Teil des Verdienten schluckte die königliche Steuer: Gewerbesteuer-Ledersteuer - Fadensteuer - Schnürsenkelsteuer - Spiegelglasputzsteuer - und neuerdings auch die Musiksteuer. Dafür mußte Albrecht tagtäglich den Gesängen lauschen, die die frischgebackenen Königlichen Hofsänger nach ihren Auftritten im Palast schließlich auch auf dem Marktplatz, direkt vor Albrechts Werkstatt, trällerten.
    Eines Nachmittags, als einer der fahrenden Sänger besonders kräftig am Loben war, legte Albrecht das Werkzeug beiseite und rief aus dem Fenster: „Wie lange sollen wir uns diesen Unsinn eigentlich noch anhören?“
    Dabei zupfte er sich die Wattebäusche aus den Ohren, mit denen er vergeblich versucht hatte, den fortgesetzten Gesängen zu entkommen. „Wer sich nur immer loben läßt, der muß doch seine Gründe haben.“
    „Pscht, du redest dich um Kopf und Kragen“, warnten die Nachbarn.
    „Wieso denn? Mich haben diese Lieder neugierig gemacht. Was ist das für ein König, der sich an solcher Musik ergötzt? Wie lebt er? Und was treibt er mit meinen
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