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Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Titel: Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Autoren: Reinhard Griebner
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Steuergroschen? Ja, ich wüßte doch zu gern, was dort hinter dem Spiegelglas vorgeht.“
    „Schuster - bleib bei deinem Leisten“, rieten die alten Leute, die in ihrem Leben genug arge Dämpfer erhalten hatten. Doch der aufgebrachte Albrecht wollte sich nicht beschwichtigen lassen. „Ich muß es wissen, ich werde es herausfinden, und ich werde allen davon berichten. So wahr ich Albrecht heiße und ein Schuhmacher bin!“
    „Einen wie dich läßt man erst gar nicht zum Tor herein.“
    „Keine Bange, gute Leute“, sagte Albrecht, band die Lederschürze ab und machte sich auf den Weg, „ich glaube, ich habe eine Idee.“
    Nach siebentägigem Fußmarsch erreichte der Schuster den königlichen Spiegelpalast und pochte kräftig gegen das eiserne Hoftor. Das Tor war mittlerweile so verrostet, daß Albrechts Klopfen ein faustgroßes Loch in den Türflügel schlug. Der Schuster blinzelte durch die Öffnung und bemerkte einen Mann in kniehohen Gummistiefeln, der wütend über den Hof gerannt kam. Der Mann war der Minister für Gesang, den der König in dieser Woche zum Schweinefüttern abkommandiert hatte.
    „He, Sommersprosse, was soll das?“ krakeelte er. „Wer bist du, daß du es wagst, hier so zu randalieren?“
    „Man nennt mich Albrecht, den Schuhmacher.“
    „Wir kaufen nichts.“
    „Nicht doch“, sagte Albrecht mit listigem Lächeln. „Wenn es erlaubt ist, würde ich den Herrn König gern mit einem frischen Gesang erfreuen.“
    Die Miene des Ministers für Gesang hellte sich auf. Er öffnete das Tor. „Ein Sänger? Sommersprosse, dich schickt mir der Himmel“, sagte er glücklich. Er wäre in großer Verlegenheit, denn wieder einmal stünde der Sonntag bevor, ohne daß er einen Musikanten für die königliche Gesangstunde hätte auftreiben können. „Laß hören, dein Lied“, forderte er Albrecht auf und setzte sich auf den Erdboden. Und Albrecht, an dem die unzähligen Gesänge auf dem Marktplatz nicht spurlos vorübergegangen waren, begann lautstark:
    „Ich sing ein Lied auf Konrad,
    Der unser König heißt,
    Den alle Welt den Größten nennt,
    Den jeder klüglichst preist.
    Ich sing ein Lied auf Konrad,
    Der sich gern loben läßt,
    So lobt ihn jeder Harlekin,
    Auf jedem Straßenfest.
    Ich sing ein Lied auf Konrad,
    Der gern sehr vornehm tut,
    Und vornehm ist er wirklich sehr,
    Man lobt auch seinen Mut.
    Ich sing ein Lied auf Konrad,
    Der...“
    „Schon gut“, sagte der Minister für Gesang und unterdrückte ein Gähnen. Er geleitete Albrecht in das Schloß und wies ihm ein Gästezimmer zu.
    „Na bitte, das ging doch besser, als ich dachte!“ jubelte der Schuster, als er allein war. Und er rechnete: „Zwei Tage bleiben bis zum Sangessonntag. Das reicht allemal, um sich gründlich umzusehen. Und am Sonntagmorgen, wenn alles noch schläft, mache ich mich aus dem Staub und erzähle meinen Leuten, was hier gespielt wird.“
    Kaum hatte sich Albrecht auf sein Bett gelegt, um von dem kräftezehrenden Fußmarsch auszuruhen, da ging im Schloß ein wildes Spektakel los. Erschrocken sprang der lange Schuster auf, schlich über den Gang und blinzelte durch einen Türspalt in den Thronsaal. Was er sah, ließ seinen Atem stocken: Der König und sein Hofstaat hatten sich um eine üppige Tafel versammelt. Knusprige Spanferkel wurden hereingetragen, man aß und trank und lärmte, daß die Spiegelwände wackelten. Als der Abend fortgeschritten war, wurde zu einem Spielchen gebeten. Konrad der Erste und Einzige würfelte mit seinen Ministern um blanke Goldstücke, wobei der König kräftig mogelte. Und verlor er wirklich einmal, was seine Mitspieler angestrengt zu vermeiden



suchten, so wurde der Gewinner sofort von seinem Posten abberufen und in ein anderes Ministerium versetzt.
    Erst als der Morgen nahte, zog im Spiegelschloß Ruhe ein. Den halben Tag schnarchte der erschöpfte Hofstaat, der diensthabende Schweinefütterer ausgenommen, vor sich hin. Und sofort nach dem Erwachen, Albrecht konnte es genau hören, fragte der König seinen Finanzminister: „Neue Steuern eingetroffen?“
    „Eingetroffen, Majestät.“
    „Dann auf zum Fest!“
    Zwei Tage, oder besser: drei Nächte lang war Albrecht Zeuge dieses höfischen Schauspiels. „Jetzt ist mir klar, warum wir Handwerker, Bauern und Händler nicht hinter die Spiegel gucken sollen und Tag für Tag einen Lobliedsänger geschickt bekommen“, murmelte er, als die Nacht vom Samstag zum Sonntag zu Ende ging. Doch als er auf leisen Sohlen vom Thronsaal
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