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Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Titel: Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Autoren: Reinhard Griebner
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einsamer Gesundläufer tauchte hinter der Konditorei auf, hüpfte in kurzen Sätzen über das Pflaster, verschwand keuchend in der Rathausgasse.
    Gegen Abend, als das flache Gebäude mit der Aufschrift Kaufhalle ausgekehrt wurde, der Gemüsehändler seine übriggebliebenen Radieschen und Kohlköpfe in den Südfrüchteladen räumte, als es im Wirtshaus so richtig laut wurde und der bronzene Dichter bereits sehnsuchtsvoll nach seinem Bildhauer Ausschau hielt, erschien auf dem Marktplatz ein zierlicher älterer Herr.
    Als er beim Dichter angelangt war, nahm er den grauen Hut vom Kopf, fächelte sich mit der Hutkrempe Luft zu und sprach: „Sie also sind ,der Mann auf dem Markt'. Verzeihen Sie die ungebührliche Anrede, aber in der Stadtbibliothek, wo ich arbeite, wurde im Laufe des Tages mit diesen Worten mehrmals nach Ihren Schriften gefragt. Ein Streifenpolizist sprach vor, ein verwegen aussehender junger Mann nannte Sie Emmes, auch der Maler, der unseren Lesesaal renoviert, bat um einen Bestellschein. — Plötzlich will man etwas aus Ihrer Feder lesen. ...Danken Sie Ihrem Schöpfer, mein Herr.“
    Der Mann blieb noch eine geraume Zeit vor dem Denkmal stehen und betastete respektvoll die bronzene Dichterhaut. Dabei bemerkte er, daß sich das Denkmal ums Herz herum sonderbar warm anfühlte.
    Höflich verbeugte sich der Bibliothekar, winkte dem bronzenen Dichter mit dem Hut einen Abschiedsgruß zu und schlurfte heim.
    Wenig später erschien der Bildhauer.
    Er begrüßte sein Denkmal mit einem freundlichen Klaps und fragte: „Na, alter Junge, wie ist es dir ergangen? Ich hoffe, du hast dich nicht gelangweilt.“
    Der bronzene Dichter eröffnete seine Antwort mit einem ausgedehnten Schweigen. Schließlich gab er sich doch die Ehre. „Offen gestanden trug ich im Morgengrauen einen gewaltigen Groll gegen Ihn im Herzen“, sagte er mit einer Stimme, die ihren metallischen Klang verloren hatte. „Noch weiß ich nicht recht, was ich von diesem Getümmel halten soll. Die Leute benehmen sich seltsam. Sie behandeln mich nicht als Denkmal, sondern menschlich.“ Und er vergaß sogar sein gekünsteltes Gehüstel, als der Bildhauer seine geliebte Tabakspfeife anzündete.



Die Glasprobe
    In der Glasstadt Weißes Wasser, so erzählen die Leute, habe sich vor mehr als einhundert Jahren eine wundersame Geschichte zugetragen. Damals lebte dort ein gewandter Glasmacher mit seiner Frau und den drei Söhnen.
    Der älteste von den dreien war ein rauher Bursche, der in der väterlichen Glashütte gründlich und gewissenhaft arbeitete, dabei allezeit einen frechen Spaß zu erzählen wußte und den ganzen Tag gute Laune unter die Leute brachte.
    Der Zweitälteste war ein kraftvoller Hüne, jedermann konnte nur staunen, wie behutsam er mit den gläsernen Schalen und Kannen umzugehen verstand.
    Der jüngste war ein geschickter Handwerker, der gern ein Lied zur Arbeit pfiff und immer dann gerufen wurde, wenn es galt, besonders feine Muster auf einen Pokal zu schleifen.
    Als der Vater die Zeit für gekommen hielt, sich auf das Altenteil zurückzuziehen, wurde ihm das Herz schwer. Er wußte nicht, welchem der Söhne er künftig den Platz als Meister in der Glashütte überlassen sollte.
    „Es ist wahr, nimmt man das Handwerk allein, wirst du zwischen unseren dreien kaum einen Unterschied feststellen“, sprach seine Frau. „Du müßtest ihnen eine Aufgabe stellen, deren Lösung nicht allein das Geschick der Hände fordert.“
    Lange dachte der alte Glasmacher über diese Worte nach. Eines Tages bat er seine drei Söhne in die Wohnstube. Er öffnete eine Truhe und stellte ein rubinrotes Weinglas auf den Tisch.
    „Seht euch dieses Stück aufmerksam an“, sagte er zu seinen Söhnen. „Ich habe es vor vielen Jahren gefertigt. Seinerzeit hat mein Vater den Kelch begutachtet. Heute will ich euer Urteil hören.“
    Der älteste Sohn trat als erster an den Tisch. Er nahm das Trinkgefäß und hielt es prüfend ins Kerzenlicht. Dabei entdeckte er, daß der Stiel schief saß und der rubinrote Kelch an vielen Stellen winzige Blasen enthielt. Doch dachte er: Es steht der Jugend nicht zu, die Arbeit der Alten durch böse Zungenschläge zu entehren. Und erklärte: „Dieses Glas ist ganz vortrefflich gelungen.“
    Nun war der mittlere Sohn an der Reihe. Als er nach dem Weinkelch griff, bemerkte er, daß der Fuß nicht sauber gearbeitet war. Beim näheren Hinsehen wurde er der übrigen Mängel gewahr, die auch seinem älteren Bruder aufgefallen waren.
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