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Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Titel: Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Autoren: Reinhard Griebner
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und grübelte: Nein, das tu ich nicht! Was hat das alles mit meinem rätselhaften Morgen zu tun? — Doch dann sagte er sich: Bekäme ich für das Bild einen anständigen Preis, könnte ich mir endlich neue Jeans kaufen und meine nächsten Bilder sorgenfrei in aller Ruhe malen. Wo da nun schon ein Rindvieh steht, wird auch ein Mensch nicht weiter stören. Und er drückte Farben aus den Tuben und pinselte einen Mann auf das Bild, der mit einem Eimer zur Kuh schritt.
    Als der Maler das erledigt hatte, war die Teestunde herangekommen. Er füllte den Teekessel mit frischem Leitungswasser und stellte etwas Gebäck auf den Tisch. Dabei besah er im Vorübergehen das Bild, blieb stehen, sah noch einmal hin und wischte sich einen Staubkrümel aus dem Augenwinkel. Wie sonst sollte die heimliche Träne entstanden sein?
    Der Maler hatte eben den Teebeutel aus der Kanne geangelt und ihn in den Müllschlucker getan, da klingelte es zum dritten Mal an der Wohnungstür. Der Besucher war ein ortsbekannter Zeitungsschreiber.
    „Gar nicht übel, das Bild!“ Er nickte dem Maler anerkennend zu und schob einen Sandkeks mit Schokoladenfüllung in den Mund. „Dieser Tage gibt es einen Wettbewerb um das beste Bild des Jahres, und ich gehöre zur Auswahlkommission“, fuhr der Zeitungsschreiber fort. „Ich könnte mir gut vorstellen, daß dein Gemälde eine Ehrenurkunde erhält...“



„Aber?“ fragte der Maler betrübt, schließlich war ihm der Gang der Dinge inzwischen geläufig.
    „Seltsamerweise wirkt das Bild ein wenig traurig“, sagte der Zeitungsschreiber mit Kennermiene. „Oder um es mal anders auszudrücken: Im Augenblick sind Gemälde gefragt, die das Leben unter einer fröhlichen Sonne zeigen. — Frisch gemalt ist halb gewonnen! Wie verbleiben wir? Am besten, ich lasse mich morgen noch einmal sehen.“
    Kann es überhaupt ein Bild geben, an dem nicht noch etwas zu verbessern wäre? Und müßte man nicht jeden Anfänger hochnäsig nennen, der sich der Weisheit des Freundes verschließt? dachte der Maler, als der Zeitungsschreiber die Stube verlassen hatte. Und erneut langte er nach Pinsel und Palette und malte an den Rand des Horizonts eine glutrote Sonne.
    Als das erledigt war, legte unser Maler eine uralte, zerkratzte Beatles-Platte auf den Plattenspieler, ließ sich im Schneidersitz auf den Fußboden gleiten und murmelte: „Heute hätte ich wirklich Grund, dankbar zu sein. Mein Gemälde soll auf einer Ausstellung gezeigt werden. Es ist so gut wie verkauft. Und über das beste Bild des Jahres ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.“
    In diesem Moment fiel die Abendsonne durch das Atelierfenster und warf ihr mildes Licht auf das Gemälde. Des Malers Blick folgte dem Lichtschein, und je länger sein Auge auf dem Bild verweilte, desto schwerer spürte er die eisige Kälte, die in ihm aufstieg. „Das Rind ist da, auch die Sonne und der Mann“, stammelte der Maler. „Aber hatte ich der Leinwand nicht ein stilles Rätsel anvertraut? Wo ist das geblieben?“
    Eine Nacht dachte er nach.
    In der Morgendämmerung schnitt sich der Maler das lange Haar ab und rasierte sein Kinn blank. Dann trennte er mit einer raschen Handbewegung das Bild aus dem Rahmen, stopfte es in den Küchenherd und sagte: „Ich hatt’s so gesehen und ich hatt’s so empfunden, und deshalb hatte ich’s so gemalt. Gewiß war mancher Ratschlag gut gemeint. Doch was ist der schon für ein Maler, der sein Bild nicht behaupten kann? Noch heute will ich fortgehen und probieren, ob ich in einer anderen Arbeit nicht besser aufgehoben bin.“
    Der Maler hatte seine geflickte grüne Kutte übergestreift und wollte gerade die Wohnungstür zuschließen, da fiel ihm ein, daß sich für diesen Tag reichlich Besuch angesagt hatte. Und er beschloß, dem Kollegen, dem Kunst-An-und-Verkäufer und dem Zeitungsschreiber eine Nachricht zu hinterlassen. Also griff er, da kein Stift zur Hand war, zu Pinsel und Palette, um ein paar erklärende Worte an die Tür zu schreiben.
    Es mochten Stunden vergangen sein, da machte der Maler eine überraschende Entdeckung: Noch immer stand er mit übergeworfener Kutte im Hausflur. Noch immer hielt er den Pinsel in der Hand, doch nicht ein Abschiedswort stand auf der Wohnungstür geschrieben. Zu sehen war ein rosaroter Morgen, der über einer unendlich grünen Wiese emporstieg. Im Vordergrund war die rissige Borke eines umgestürzten Baumes zu erkennen. Im Hintergrund schienen Himmel, Wald und Wiese ineinanderzufließen.

Schuster
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