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Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Titel: Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Autoren: Reinhard Griebner
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und König
    Es lebte einmal in einem fernen Reich, in dem die Schlüssellöcher Augen und die Wände Ohren hatten, ein König. Der Landesvater hieß Konrad der Erste und Einzige und bewohnte mit seinem Hofstaat einen Palast, dessen Wände aus Spiegelglas waren. Sie brachten den unschätzbaren Vorteil, daß jeder, der am Schloß vorbeikam, nur das eigene Gesicht erblickte. Niemand konnte sehen, was hinter den Spiegelwänden, im Palast, vor sich ging. Und auf die häufig gestellte Frage: „Spieglein, Spieglein, sag es mir - lebt der da drinnen genau wie wir?“ gab es keine Antwort. Denn jener Spiegel, der reden kann, gehört in ein anderes Märchen.
    Früher einmal, sagte man, war der Spiegelpalast das Schmuckstück des Landes gewesen. Unter Konrad dem Ersten und Einzigen jedoch war das Bauwerk am Verkommen. Das wuchtige Eisentor rostete vor sich hin. Kniehoch stand das Gras zwischen den Pflastersteinen, und wo nicht gepflastert war, war der Palasthof von Schweinerüsseln zerwühlt. Allein die Spiegelglaswände des Palastes funkelten stets blitzblank geputzt, weil der König für diese Aufgabe extra einen Minister bestallt hatte, den Minister für Glas-und Gebäudereinigung.
    Konrad selbst war weder jung noch alt und von einer Statur, daß ihn die Dünnen dick und die Dicken vollschlank nannten. Sein Hofstaat konnte ihn meist in einer speckigen Lederhose bewundern, über die bis zur Hüfte ein zerknittertes Seidenhemd fiel. Die vom Vater ererbte Krone saß Konrad schief auf dem Haupt, schwarze Locken baumelten ihm in die Stirn, wenn er zwischen den Ziegen und Schafen über den Palasthof schlenderte, sich selbstzufrieden den Bauch rieb und ab und an einem schnüffelnden Schwein leutselig das Hinterteil tätschelte. Konrad der Erste und Einzige fühlte sich am wohlsten, wenn er träge in den Tag dämmern konnte. Das eigentliche Leben bei Hofe fiel sowieso in die Nachtstunden. Von den Leuten aber, die in seinem Land zu Hause waren, erwartete der Landesvater, daß sie pünktlich ihre Steuern zahlten, und vor allem, daß sie ihren König liebten und verehrten. Deshalb war er sorgsam darauf bedacht, nur die vorteilhaftesten Neuigkeiten aus dem Spiegelpalast im Land verbreiten zu lassen.
    Dabei kam ihm ein Gesetz zustatten, das sein Vater vor vielen Jahren erlassen hatte. Es besagte: Jeden Sonntag hat ein Musikant auf dem Schloß zu erscheinen und dem König ein Lied vorzutragen, das die Klugheit, die Bescheidenheit, den Kunstverstand, die Kraft, die Güte... und so weiter... des Herrschers zu preisen hat. Wer diese Aufgabe zur Zufriedenheit löst, erhält einen Silberling zum Lohn.
    Obwohl Konrad Musik nicht leiden konnte und selbst nur in der Badewanne sang, also selten genug, ließ er dies Gesetz seines Vaters unangetastet. Denn da war eine Weisheit, die der alte König dem Sohn auf dem Sterbebett anvertraut hatte: Ein schützender Zauber umgibt den spiegelgläsernen Palast. Solange hier Lobgesänge auf den König ertönen und die Leute draußen in den Palastwänden ihr eigenes Gesicht anschauen, solange wird kein Sterblicher die Macht des Königs brechen. Wehe aber, wenn drinnen auch nur ein Wort erklingt, das eine andere Wahrheit verkündet. Dann würde Fürchterliches geschehen. Drum putze die Scheiben und prüfe die Lieder!
    Wenngleich Konrad den Sinn dieser Worte nie ganz begriffen hatte, tat er doch, wie ihm geraten. Seit Jahr und Tag gehörten die Sangessonntage zum Hofprogramm. Und so wie der Minister für Glas- und Gebäudereinigung unter Androhung härtester Strafe dafür zu sorgen hatte, daß die Spiegelwände immer sauber waren, oblag dem Minister für Gesang die Verantwortung, daß die Lieder den König stets in den höchsten Tönen lobten.
    Obwohl die Musikanten ständig wechselten, waren die Gesänge mit den Jahren einander immer ähnlicher geworden. So geschah es regelmäßig, daß den Landesvater bereits nach den ersten Strophen eine große Müdigkeit packte. Mit einem milden Lächeln auf dem Gesicht und einer mürben Gänsekeule in der Hand pflegte er auf dem Thronsessel einzuschlummern. Und mit ihm schlief der gesamte Hof.
    Eines Sonntags, man bereitete im Spiegelschloß eben das Konzert vor, wurde der König von einem fürchterlichen Schnupfen geplagt. In seiner Nase krabbelte es so sehr, daß er diesmal nicht in den Schlaf kam. Er lehnte sich im Sessel zurück, griff alle Augenblicke nach dem Taschentuch und bemerkte plötzlich, wie die hochbezahlten



Minister um ihn herum einer nach dem anderen
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