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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Autoren: Lion Feucht Wanger
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dauerte es, bis man den vollen Karren von dem Kiesstapelplatz zur Arbeitsstätte geschoben hatte, weniger als die Hälfte brauchte man für den Rückweg mit dem leeren Karren. War man mit dem beladenen Karren in der Nähe des Ziels, dann freute man sich auf die Erholung des Rückwegs. Gustav beschaute seine Kameraden. Einundzwanzig von den dreiundzwanzig seines Schlafraums waren da, kahlgeschoren oder mit ganz kurzem Haar, zumeist hatten sie wildes Gekräusel um die Wangen oder auch richtige Bärte; zwei hatten Haarbüschel in Form eines Hakenkreuzes. Einige trugen Brillen, die meisten hatten die Gesichter von Intellektuellen. Alle schauten abgezehrt aus, erschöpft, stumpf, manche schienen am Rande der Verblödung; fast alle hatten sie blaue und schwarze Flecken im Gesicht. Jetzt wußte Gustav, wie der wirkliche Johannes des Lagers Herrenstein ausgeschaut hatte. Anders als der Hampelmann seiner Visionen, viel erschreckender in seinen schmutzigen, gestreiften Kleidern. Für solche Betrachtungen hatte Gustav aber nur Zeit, wenn er den leeren Karren schob; schob er den vollen, dann, bald, dachte er nur mehr: Wann werde ich da sein? und: Wäre ich erst auf dem Rückweg.
    Sie marschierten zurück ins Lager. Sangen das Horst-Wessel-Lied. Sprachen das Tischgebet: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast / Und segne, was du uns bescheret hast. / Schütze unsre deutsche Nation / Und unsern Reichskanzler Hitler, ihren größten Sohn.« Aßen Kohlrübensuppe und Brot. Wuschen das Geschirr. Marschierten hinaus auf den Hof. Standenstramm. Ließen den Musterungsappell über sich ergehen. Grölten, während der Befehlshaber die Front abschritt: »Heil Hitler.« Sangen das Deutschlandlied. Traten zum Turnen an.
    Und diesmal, endlich, kamen die Kniebeugen. Sie gingen anders vor sich, als Gustav sich vorgestellt hat. Da war nichts von schnellem, federndem Auf und Nieder. Vielmehr vollzogen sie sich in vier Zeiten, jede, nach der Uhr gemessen, zwei Minuten. Erste Zeit: auf Fußspitzen, zweite: in die Kniebeuge, dritte: wieder auf Fußspitzen, vierte: Grundstellung. Hob man die Absätze nicht an, ging man nicht tief genug in die Beuge, dann halfen Fußtritte nach. Die Stiefel der Landsknechte waren groß und schwer. Gustav, während er in der Beuge hockte, dachte an seinen Großvater Immanuel, wie der ihm einmal, als seine Mutter sehr krank war, erklärt hatte: »Gam su letovo – Auch dies zum Guten.« Er hatte nicht begriffen, wieso etwas Schlechtes zum Guten dienen könnte. Der Großvater hatte ihm erklärt, es werde »angerechnet«. Es gebe da eine Art Buchführung, und was unten als böse erscheine, auf der Debetseite, erscheine oben als gut, als Guthaben. Ganz verstanden hatte der kleine Gustav nicht. Jetzt, langsam, dämmerte ihm, was der Großvater gemeint hatte. Mechanisch wiederholte er die hebräischen Worte. Eins, auf Fußspitzen: gam. Zwei, in die Beuge: su. Drei, wieder auf Fußspitzen: le. Vier, Grundstellung: tovo. Im übrigen bemühte er sich, nicht umzusinken; denn dann kamen die Stiefel der Landsknechte. Nach einer halben Stunde war er erschöpft. Einmal sank er wirklich um, der Tritt des jungen, bauerngesichtigen Wächters war hart. Von da an dachte er nichts mehr, nur mehr an die zwei Minuten Grundstellung und Ruhe, und während der zwei Minuten Grundstellung und Ruhe dachte er mit Angst an die sechs Minuten Anstrengung, die nun folgen werden.
    In der halben Stunde Freizeit nach dem Turnen lag Gustav in einem Winkel. Dann mußten sie antreten, und einer mit Sternen hielt eine Ansprache. Eigentlich sollte man, erklärte er, alle Juden und Marxisten abstechen wie Kälber. Aber dasDritte Reich sei edel und großzügig und mache den Versuch, diese Untermenschen zu erziehen. Erst wenn einer sich als ganz und gar unverbesserlich erweise, mache man Schluß mit ihm. Dies war offenbar der »Unterricht«, die »Erziehung«. Denn jetzt wurden ihnen Sätze aus dem Buche »Mein Kampf« vorgelesen. Im Chor hatten sie die These nachzusprechen: »So wenig eine Hyäne vom Aase läßt, so wenig ein Marxist vom Landesverrat«, und andere Leitsätze des Führers. Dieser Führer, wurde ihnen dann erklärt, sei am 20. April 1889 in Braunau in Österreich geboren; und alles, was er sage und tue, komme direkt von Gott. Wer von den anwesenden Rindviechern die Daten aus dem Leben des Führers und die heute vorgesprochenen Sätze bis morgen nicht auswendig könne, bekomme drei Wochen Bunker. Niedergelegt sei das Evangelium des Führers in dem
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