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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Buche »Mein Kampf«; die Gefangenen hätten das Recht, dieses Buch zu kaufen, kartoniert um fünf Mark siebzig, gebunden um sieben Mark zwanzig. Das Geld könnten sie von ihren Angehörigen einschicken lassen.
    Es waren vierundzwanzig Menschen, die auf diese Art unterrichtet wurden, die meisten Intellektuelle, Professoren, Ärzte, Schriftsteller, Anwälte, und der sie unterrichtete, war ein junger Bauernbursch. Die Häftlinge saßen da in ihren gestreiften Kleidern, blaue und schwarze Flecken im Gesicht, kahlgeschoren oder mit ganz kurzem Haar, zwei mit Haarresten in Form eines Hakenkreuzes. Sie saßen mit leeren Mienen, dumpf, und plapperten im Chor die Sätze, die man ihnen vorsprach, ängstlich bemüht, sie ihren gequälten Gehirnen einzuprägen. Dunkel erinnerte sich Gustav, daß einmal er aus denn Buche »Mein Kampf« vorgelesen hatte, einem Manne namens François, und daß sie gelacht hatten.
    Auch in dieser Nacht schlief Gustav schwer und tief. Der zweite Tag verlief wie der erste, der dritte wie der zweite. Das Lager Moosach galt als human; zwar bekam Gustav Tritte und zuweilen einen Schlag über den Kopf, oder ins Gesicht, aber es wurden in diesem Lager die Gefangenen viel seltener zu »Verhören« geführt als in anderen. Worunter Gustav litt,das war die unzureichende Ernährung und das Übermaß des Exerzierens; oft fühlte er sich schwach trotz seines trainierten Körpers und spürte sein Herz.
    Schlimm waren die Anstrengungen, schlimmer der Hunger, der Gestank, aber das Schlimmste war das ewige Einerlei, das ewig Graue. Man durfte mit keinem Menschen sprechen, und die Ödnis des Exerzierens zermürbte einen. Sie wollen einen zum Tier machen, dachte Gustav, sie wollen einem den Schädel leer und stumpf machen. Schon hatte er keine Gedanken mehr als solche, ob man heute Kniebeugen üben wird oder Strammstehen oder Kriechen im Gelände, und ob er heute den leichteren Karren oder den schwereren bekommt oder gar den mit dem gesprungenen Griff, der für die Blasen an der Handfläche besonders schlimm ist.
    Trotzdem er nicht mit ihnen sprechen durfte, kannte er jetzt seine dreiundzwanzig Stubengenossen genau. Er wußte, wer sanfter war, wer zornmütiger, wer körperliche Arbeit gewohnt, wer nicht, wer kräftiger, wer weniger kräftig, wer es vermutlich länger ertragen wird, wer kürzer. Er wußte, wer mit hoher Stimme »Zu Befehl« sagte, wer mit tiefer, wer laut sang, wer leise. Dies letztere war sehr wichtig; denn wenn das Horst-Wessel-Lied oder das »Heil Hitler« nicht schneidig genug klang, kam es vor, daß die Laune des inspizierenden Mehrbesternten litt. Am meisten fiel unter Gustavs Stubengenossen ein Mann auf, vielleicht Mitte der Fünfzig, der oft mit den Augen zwinkerte und offenbar eine Brille getragen hatte; noch sah man den leicht vernarbten Einschnitt über der Nase. Die Brille war wohl bei einer »Vernehmung« zerschlagen worden, oder sie hatten sie ihm zum Spaß weggenommen. Dieser Mann hatte auf alles, was man ihm sagte, nur die ängstliche Antwort: »Zu Befehl«, und hielt, sprach man ihn an, erschreckt den Arm vors Gesicht. Es war klar, daß sein Hirn versagte. Er störte bei den gemeinsamen Übungen und Arbeiten, er war eine Belastung für seine Mithäftlinge, sogar für die Wachmannschaften. Diesen aber, die selber unter der Langeweile des Dienstes litten, bot die Blödheitdes Mannes willkommene Abwechslung, sie zogen es vor, mit seiner Idiotie amüsante Experimente zu machen, statt ihn in eine Anstalt für Geistesgestörte zu stecken.
    Die Tage verliefen gleichmäßig, nüchtern. Einmal, wie Gustav seinen Karren auf einer neuen Strecke schob, kam er an einen schwärzlichen Tümpel. Er verschnaufte einen Augenblick. Da sah er in dem besonnten Wasserspiegel einen großen Kopf mit einem schmutzigen Krausbart, ein wenig weißlichen Flaum auf dem Schädel. Er hatte sein Gesicht lange nicht mehr gesehen, früher hatte er es oft gesehen. Mit Interesse beschaute er den Kopf. Er war abgezehrt, die Augen matt, mit blutigen Äderchen. So also sah jetzt Herr Georg Teibschitz aus. Gustav wunderte sich, aber ihm mißfiel dieser Herr Georg Teibschitz nicht. Leider hatte er nicht lange Zeit, das Gesicht zu betrachten, denn sein Karren mußte zurück. Als er den andern Tag an die Stelle kam, war der Tümpel so ausgetrocknet, daß er das Gesicht nicht mehr darin sehen konnte. Er war enttäuscht.
    Die Tage gingen hin, es war immer die gleiche folternde Ödnis und Grauheit. Erst gegen Ende der zweiten
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