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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Woche gab es einen Zwischenfall. Einmal nämlich wohnte ein höherer Offizier der Landsknechte, einer mit Eichenlaub, dem »Unterricht« der Abteilung bei. Die Abteilung hatte im Chor einen der völkischen Leitsätze zu sprechen: »Gemeinnutz geht vor Eigennutz.« Sie sprachen den Satz, sprachen ihn mehrere Male. Plötzlich horchte der mit dem Eichenlaub auf, unterbrach. Ließ sie nur mehr in Gruppen zu vieren sprechen. Kam an die Gruppe Gustavs. Da, es war ganz deutlich, sagte eine Stimme: »Gemeinheit geht vor Eigennutz.« Der mit dem Eichenlaub ließ wiederholen. Wieder kam: »Gemeinheit geht vor Eigennutz.« Es war der verblödete Brillenlose, alle hörten es, und alle wußten, daß der Verblödete mit dem besten Willen, es recht zu machen, so plapperte. So hatte er offenbar verstanden, so, glaubte er, war die Meinung der Völkischen. Aber der Verblödete war amtlich nicht verblödet, er war böswillig. Er und seine ganze Abteilung wurdenbestraft, mit Entzug abwechselnd des Mittag- und des Abendessens. Die Hauptschuldigen aber, jene Gruppe, zu der Gustav und der Brillenlose gehörten, wurden in den Bunker gesperrt.
    Die Bunker waren nahe bei der Latrine, es waren frühere Aborte, durch Aufnagelung eines Brettes für ihren neuen Zweck hergerichtet. Ein Bunker war ein und einen halben Quadratmeter groß, vollständig dunkel. Hier also wurde Gustav für eine Woche eingeriegelt, Tag und Nacht. Herausgelassen wurde er nur zu den Mahlzeiten. Erst quälte ihn am meisten der ungeheure Gestank, dann quälte ihn mehr, und von Tag zu Tag schlimmer, die Unmöglichkeit, seine Glieder zu bewegen, sich auszustrecken. Am meisten schmerzte ihn der Rücken.
    Es gab Stunden, in denen Gustav in einer Art Halbschlaf hockte, es gab Stunden der wüstesten Verzweiflung, Stunden der Wut, Stunden fiebrigen Nachdenkens, wer wohl etwas für ihn unternehmen werde. Aber es gab keine Stunden mehr, in denen Gustav einverstanden gewesen wäre mit seinem Schicksal. Niemals mehr dachte er: Gam su letovo.
    Er war ein Narr, daß er nach Deutschland zurückging. Die beiden Jungens hatten recht gehabt, Heinrich und jener andere. Die Juden haben recht, die in Deutschland bleiben und schweigen. Was für eine freche Überheblichkeit war es, daß er sich für besser hielt als Herrn Weinberg. Ob wohl Bilfinger mit seiner Braut wieder ins Lot gekommen ist? Dieser verfluchte Bilfinger. Der ist an allem schuld. Die Brille müßte man ihm von seinem viereckigen Schädel herunterschlagen. Nein, Johannes Cohen ist an allem schuld. Der hat ihn hierher gelockt. Immer war es Johannes, der ihm alles verdorben hat. Und dann hat er sich’s leicht gemacht mit seinen Kniebeugen. Wie ein Hampelmann hüpfen, das ist keine Kunst. Zwei Minuten auf Fußspitzen stehen, das ist etwas anderes, mein Lieber. Vor allem in der dritten Zeit.
    Wie hießen doch die Gelasse, in die die Römer ihre Sklaven einsperrten? Es gibt einen antiken Schriftsteller, der darübergeschrieben hat. Blöd, daß ich nicht auf den Namen kommen kann. In der Max-Reger-Straße habe ich geglaubt, daß ich nicht arbeiten kann, wenn ich nicht weiten Raum zum Aufundablaufen habe. Wenn ich den Leuten vorschlage, sie sollen mir noch eine Mahlzeit entziehen und mich dafür zwei Stunden herauslassen? Sie tun es nicht. Sie haben die Maßstäbe zerbrochen. Jetzt weiß ich es: Columella heißt der Mann, der über die Sklaven geschrieben hat, und die Gelasse heißen ergastula. Mein Gedächtnis. Ich hab immer noch ein anständiges Gedächtnis.
    Ein Rindvieh im Quadrat bin ich. Wem nützt es, daß ich hier im Gestank verkomme? Alle haben recht gehabt. Es gibt nichts Lächerlicheres als einen Märtyrer. Dem Johannes Cohen müßte man eins in die Fresse knallen. De mortuis nil nisi bene. Aber man müßte ihm doch eine herunterknallen. Anna hätte mir abraten müssen. In eine Nervenheilanstalt hätte sie mich sperren lassen müssen. Und jetzt haue ich dem Johannes doch eine herunter, mitten hinein in seine gelbe Fresse.
    Er schlägt zu. Er trifft die Holzwand des Bunkers. Es ist ein kraftloser Schlag, aber er erschrickt, er fürchtet, jemand habe ihn gehört. Schnell setzt er sich stramm und sagt: »Zu Befehl.«
    Eines Nachts auch wurde er zu einer »Vernehmung« geführt. Er galt als Miesmacher, er gehörte immer noch zu den Leichtverbesserlichen trotz der Strafe. Wenn man ihn vernahm, so war das nicht aus böser Absicht, sondern lediglich, weil man gerade nichts anderes zu tun hatte. Immerhin kam Gustav von diesem
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